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Faust im Lavendelbad – Premierenkritik Sven Ratzke

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Foto © Barbara Braun_MuTphotoIn seiner neuen Show „Homme Fatale“ unternimmt Sven Ratzke einen musikalischen Roundtrip

von Axel Schock

BERLIN – Sven Ratzke hat ganz offenbar zu heiß gebadet. Oder der vermeintliche Lavendelextrakt enthielt noch ganz andere Ingredienzen und hat ihm ordentlich die Sinne vernebelt. Für Menschen, die auch auf Bühnenbrettern ein Mindestmaß an Rationalität abfordern, wäre dies wohl die einzige Erklärung, um dem deutsch-niederländischen Entertainer auf seinem Trip folgen zu können.

Weshalb er zu Beginn seiner neuen Show „Homme Fatal“ als elegante Dressman-Variante des Phantoms der Oper ins Licht des Berliner Tipi getreten ist, wird allerdings dennoch das Geheimnis Ratzkes bzw. seines Ausstatters, des Stardesigners Thierry Mugler, bleiben.

Stück für Stück wird sich Ratzke im Laufe des Abends seines extravaganten Outfits entledigen und sich so auch modisch in mancherlei Zwischenwesen verwandeln: vom Zirkusdirektor, Wrestler und Superhero bis zum Glam-Rocker ist alles dabei.

Selbst der Overknee-Schaftstiefel kann er sich mit einem Rutsch entledigen. Und wenn’s darauf ankommt, kann Ratzke mit dieser Multifunktions-Haute-Couture sogar einen überzeugenden Rückwärts-Strip vollführen. Warum sollte man Ratzke also auch nicht abnehmen, dass sein Name in Wahrheit Luzifer ist, dem im Entspannungsbad ein faustischer Pakt zuteil wird, überall und jedermann sein zu können.

Von Paris über Rom bis nach New York geht diese Reise, mit musikalischen Zwischenstopps bei Joy Division, Rufus Wainwright, Lou Reed und IggyPop. Den roten Faden zwischen diesen Stationen hält Ratzke zwar fest in der Hand, seine mäandernde Erzählung hebt dabei aber ab ins Phantastische und Mythologische, ist Spuk- und Traumgeschichte, mal Wahn- und Irrsinn und dann auch einfach mal nur abstruse Groteske.

Sven Ratzke im Tipi - Foto © Barbara Braun_MuTphoto

Sven Ratzke im Tipi – Foto © Barbara Braun_MuTphoto

Sven Ratze fabuliert um des Fabulierens willen. Seine dreiköpfige Band zaubert mit Tasteninstrumenten (Christian Pabst), Schlagzeug (Haye Jellema) und Bass (Florian Friedrich) das dazu passende Geräusch – und den Soundttepich. Ob Gruselkeller, verrucht-verrauchter Nightclub, die engen Gassen Roms oder die sich nach alten, besseren Zeiten zurücksehnende Filmstadt Cinecittà – Ratzke und seinen Musikern gelingt es, den Zuschauer tatsächlich an diese Orte und zu den seltsamen Begegnungen mitzunehmen.

Eine Rampensau, ein Showman und ein Rock Animal ist Ratzke auch weiterhin. Doch anders als in früheren Programmen nimmt er sich weit weniger Raum für ausschweifende, schmutzig-schnoddrige Exkurse und Interaktionen mit seinem Publikum. In „Homme Fatale“ beschwört und zelebriert er vielmehr die rätselhafte Aura eines androgynen Charmeurs, der nie ganz von dieser Welt ist und doch in jedem Augenblick so präsent, wie es nur ein großer Entertainer zu sein vermag.

Auch in musikalischer Hinsicht wagt Sven Ratzke eine konsequente Weiterentwicklung. Nach Cabaret-Programmen, die dem Repertoire von Zarah Leander über Hildegard Knef bis Michael von der Heide verpflichtet waren, und der – mittlerweile auf drei Kontinenten – zu Recht gefeierten David-Bowie-Show „Starman“ sind solche Cover-Versionen nun in der Minderzahl. Stattdessen Songs, die in Kooperation etwa mit dem Belgier Dez Mona, der New Yorker Singer-/Songwriterin Rachelle Garniez und vor allem mit seinem Pianisten und bemerkenswerten Arrangeur Christian Pabst entstanden sind.

Dieses Material fügt sich dabei fast nahtlos in den musikalischen Kosmos ein, den sich Ratzke mit seiner sonoren, warmen Stimme und deren Nähe zu Reed, Bowie, Ian Curtis & Co. erschlossen hat. Der kongeniale Song, den man auf alle Zeiten mit Sven Ratzke verbinden wird, fehlte diesmal allerdings. So catchy, wie das gecoverte Material sind diese Neukompostionen noch nicht. Mit „Mephisto“ (Text Ratzke/ Musik Pabst), war man aber schon ganz dicht dran.

©2017 Bonmot-Berlin
Fotos: Facebook Tipi © Barbara Braun/MuTphoto

Homepage Sven Ratzke mit allen Terminen | tipi am KanzleramtTIPI am Kanzleramt

Nach seiner Tour in die USA und durch die Niederlande folgen Ende November weitere Gastspiele in Deutschland. // „Ratzke’s Rendezvous“, Talk-Cabaret-Show, aufgezeichnet in der Bar jeder Vernunft, in der ARD-Mediathek abrufbar. Ratzke: „Homme Fatale“ Bar Jeder Vernunft

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Ungezügelt sündhaft – Sia Korthaus Premierenkritik

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Sia Korthaus Köln - Foto © Simin KianmehrSia Korthaus: „Lust auf Laster“

von Marianne Kolarik

KÖLN – Nein, Fernfahrer hatten sich nicht ins Senftöpfchen-Theater verirrt, um alles über Laster zu erfahren. In „Lust auf Laster“, so der Titel des neuen Programms von Sia Korthaus, mit dem sie im Rahmen des Köln Comedy Festivals eine umjubelte Premiere feierte, ging es vielmehr um verbotene Leidenschaften wie Wollust („auch Lust kann zum Laster werden“), Völlerei und Faulheit – also ganz alltägliche „Sünden“, die das gewisse Etwas besitzen, kurz: sexy sind.

Dabei belässt es Korthaus allerdings nicht. Sie holt auch eine Vierjährige und die circa 90jährige Oma Emmi auf die Bühne, Vertreterinnen zweier ganz unterschiedlicher Generationen, die einen „Generatorenvertrag“ abgeschlossen haben. Und die pfiffige Handpuppe Britta, die gerne YouTube-Star würde und viele alberne Witze erzählen kann.„Was macht eine Wolke mit Juckreiz? Klar, sie hält nach einem Wolkenkratzer Ausschau!“

Sia Korthaus Köln - Foto © Simin KianmehrBei ihrer Lieblingsbeschäftigung – im Wald spazieren gehen – trifft sie auf ihren Finanzbeamten Herkenrath (ob er sich wohl so schreibt?), der einem Club angehört, der sich um die kulturelle Erhaltung von Steinzeit-Riten verdient macht und gleichzeitig eine Steuernachzahlung von ihr einfordert. Mit ihrer „leicht sadistischen Ader“ denkt sie über einen Mitgliedsantrag für die R.A.F. (Raucher Armee Fraktion) nach und erzählt von ihren Erfahrungen mit Billigflugreisen in die USA. Nur zum Beispiel.

Unter der Regie von Stunksitzungs-Regisseur Thomas Köller und mit Unterstützung von Co-Autoren wie Thilo Seibel, Gernot Voltz („Herr Heuser vom Finanzamt“) und anderen ist ein Programm entstanden, in dessen Verlauf die Kölner Kabarettistin sämtliche Register ihrer phänomenalen Verwandlungs-Kunst ziehen kann. Nicht zu vergessen: Britta, die vorlaute Handpuppe, die einen Limbo-Tanz auf dem Stehpult absolviert, und die von Ariane Baumgartner komponierten und arrangierten Songs („Zügeln hat keinen Sinn, ich geb‘ mich gern dem Laster hin“), die Korthaus mit ihrer prächtigen Stimme intoniert. Wie die Poetry-Slam-Zugabe mit Wollmützen-Charme. Ein Erlebnis.

Sia Korthaus Köln - Foto © Simin Kianmehr

©2017 Bonmot-Berlin
Fotos: © Simin Kianmehr

Homepage Sia Korthaus


Berserker im Samtanzug – Kritik Sebastian Krämer

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Sebastian Krämer & Metropolis-Orchester Berlin
Uraufführung: „Im Glanz der Vergeblichkeit – Vergnügte Elegien“

von Carlo Wanka und Beate Moeller

BERLIN – Man erlebt viel in Berlin, und es ist auch nicht selten, dass Menschen vor Kassenhäuschen stehen und fragen, ob man ihre Karte kaufen möchte. So war auch am Kartenschalter des Heimathafens Neukölln eine Traube von Leuten ganz aus dem Häuschen. Fieberten, wollten sie doch eine Karte des total ausverkauften Konzerts ergattern. Warum?

Mit Pauken und Trompeten, Geigen und etlichen anderen

Streichinstrumenten, zwei Harfen und überhaupt mit einem ganzen Orchester, dem Metropolis-Orchester, hat sich der Berliner Liedermacher ausgestattet. Ein geradezu größenwahnsinniges Projekt. Das Publikum rastet schon aus, bevor Sebastian Krämer die Bühne betritt und mit Dschingderassassa am großen Bechstein-Konzertflügel die Premiere eröffnet.

Ob da nur ein Spielzeug mal zufällig draußen liegen geblieben sein mag oder ob „Puppi Duppi hat die Nacht im Garten verbracht und seitdem nicht mehr gelacht“ was viel Düstereres bedeutet, bleibt dem Interpretationsspielraum des Publikums überlassen und eröffnet dem Künstler jede Steigerungsmöglichkeit.

Eine verschmitzte Lehrer-Attitüde gehört bei ihm dazu – mal wird einem der Unterschied zwischen Dur und moll erklärt, „aber moll ist immer noch ein bisschen schöner“, mal wird der Besinnungsaufsatz über Franz Kafka und Max Brod zerpflückt.

Das Orchester schlägt einen mittelalterlicher Sound an, um die Geschichte vom Drachentöter zu zelebrieren. Es wäre kein Krämer Song, wenn da nicht auch eine U-Bahn und ein Nachtzug ganz selbstverständlich durch die Moritat sausten. „Wie heißt das Passwort für den Berg?“ Schelmisch rauscht Sebastian Krämer durchs Programm, das vorab schon mit dem Titel „Im Glanz der Vergeblichkeit – Vergnügte Elegien“ irritiert, egal ob er sich mit Ernst Barlachs Buchleser, den ein René aus dem Publikum auf der Bühne nachsitzen muss – „die Haltung zeugt vom Eifer der Lektüre“ – , mit Spitzwegs armem Poeten befasst oder mit der „Fingerkuppensuppe“ aus dem Kochbuch der Kannibalen, in dem sich erstaunlich viele vegetarische Rezepte finden.

Mit anscheinend kindlicher Naivität schaut dieser Querdenker auf die Welt, um das Beobachtete blitzgescheit, wortgewaltig und mit exzellentem sprachlichen Feingefühl zu sezieren – ein Berserker im Samtanzug. Immer wieder verblüfft der Gründer des ‚Club Genie und Wahnsinn‘ (monatlich einmal im Zebrano-Theater) mit Unerwartetem. Was er als einen „happy Song für alle, die kein Deutsch sprechen“ ankündigt und mit fröhlich-schmissiger Musik begleitet, erzählt die todtraurige Geschichte von „Patricks Zimmer“, in dem alles bleibt, wie es ist.

„Du musst immer die erste Geige spielen!“, schimpfen Leute – früher jedenfalls. Doch was daran verkehrt sein soll, bleibt bis auf weiteres unerklärlich. Dass aber Silva Finger beim Metropolis-Orchester die erste Geige spielt, ist wunderbar. Und wenn ein Tubist benötigt wird, nötigt man einen aus dem Auditorium – und siehe da, es kommt einer auf die Bühne.

Zweimal über eine Stunde begeistert Sebastian Krämer mit dem Metropolis-Orchester das Publikum im Berliner Heimathafen. Die Spielfreude des Orchesters unter der Leitung von Burkhard Götze trägt zum Gelingen dieser außergewöhnlichen Premiere und dieser einzigartigen Show bei, der man wünscht, dass noch viele Auftritte folgen mögen. Bravo!

 

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1. Violine – Konzertmeisterin Margarita Gamova | 1. Violine – Alessia Laurora
2. Violine – Joselyne Mariotti & Silva von Bülow
Viola – Misha Balan | Violoncello – Ella Jarrige | Kontrabass – Emy Mahdy
Flöte – Martin Bosse Platière | Oboe – Camila del Pozo
Klarinette/Sax – Tanja-Maria Hirschmüller | Fagott – Sheng-Hsien Hsieh
Horn – Susanne Kugler | Trompete – Tandoruk Yalcin
Posaune – Sören Fries | Pauken/ Schlagzeug – Jens Peter Kappert

Solo Violine bei Dolo Silva von Bülow
Dirigent Burkhard Götze

Fotos: Carlo Wanka

© 2017 BonMot-Berlin

Homepage: Sebastian Krämer | Metropolis Orchester Berlin

First they take Kreuzberg, then they take Las Vegas – Premierenkritik

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2019-01-17 Kaiser & Pain - Besetzungscouch - BKA - Foto © Ritter von Lehenstein

Kaiser & Plain: „#Besetzungscouch – die Suche nach der wahren Liege“

von Beate Moeller

BERLIN – Kennen Sie Kaiser und Plain? Halten Sie sich ran, wenn „nein“. Denn es könnte passieren, dass diese beiden Kleinkunsthuren, wie sie sich selbstironisch nennen, demnächst nicht mehr auf den Kellerbühnen des deutschen Kabaretts rumdümpeln, sondern international ganz groß rauskommen – zum Beispiel in Las Vegas.

Diese Perspektive eröffnet jedenfalls der Anruf der Agentin, der mitten in die Premiere von „#Besetzungscouch“ im Kreuzberger BKA-Theater im 5. Stock (!) platzt, als dem aufstrebenden Duo aus Berlin mal wieder ein Impresario die Tür vor der Nase zugeknallt hatte. Bis dahin breitet Virginia Plain ihre Autobiografie vor uns aus. Und wir kapieren: So eine Sängerinnenkarriere ist wahrlich keine einfache Sache.

2019-01-17 kaiser & plain besetzungscouch - bka 60x45 - foto © carlo werndl von lehenstein 07Ziemlich peinlich ist ihr heute der erste Preis „Goldene Klöppelfee im Erzgebirge“, beschämend die Erinnerung an den Ballettunterricht, aus dem die gemeine russische Lehrerin das undünne Mädchen als „zu klein“ rausbugsierte. Düster auch die Aussichten beim Kirchenchor. Im Gewölbe unter dem Gotteshaus hatte sich der Chorleiter, der ja eigentlich Popmusikproduzent war, ein Tonstudio eingerichtet und nichts Geringeres hatte er im Sinn, als aus ihr einen richtigen Popstar zu machen. Aber die kleine Virginia war schlau genug zu erkennen, dass der Mann schummelt. Die goldenen Schallplatten an den Wänden hatte er selbst angepinselt und das „Tina Törner“ darauf mit Ö geschrieben.

Zum Sterben komisch sind ihre Geschichten, die sie mit so hinreißender, offenherziger Aufrichtigkeit gesteht, dass es einem schier das Herz bricht. Imposant ihre Erscheinung sowieso, aber viel imponierender ihre Stimme, ihre Mimik, ihre Körpersprache, ihr Witz – ach was, die ganze Frau eine Granate.

Ist nicht von einem Duo die Rede? Doch. Die andere Hälfte von Kaiser & Plain heißt David Kaiser. Seine vornehmste Aufgabe besteht in der Zurückhaltung. Außerdem begleitet er Madame äußerst einfühlsam am Flügel, hat viele der Lieder geschrieben, ist ihr Partner beim zweistimmigen Gesang, wird nach aller Demut gelegentlich zum Giftzwerg und darf auch mal eine Rolle spielen.

2019-01-17 kaiser & plain besetzungscouch - bka 60x45 - foto © carlo werndl von lehenstein 17Etwa als schleimiger Chef des Matratzenlagers, bei dessen Eröffnung Virginia mit blonder Perücke als Schlagermaus Susi ihren Superhit „Mein Herz“ zum Besten geben darf. Dieses Ereignis markiert den Wendepunkt in Virginias Laufbahn. Danach möchte sie nur noch was Sinnvolles machen, nämlich Kabarett, Chansons singen. Eine wirkliche Botschaft verbreiten.

Die ehrliche Absicht gerät in Konflikt mit dem Streben nach Erfolg oder sagen wir mal nach jeder Menge Kohle. Im Laufe ihrer plausiblen Geschichte zeigen Kaiser & Plain, dass sie jedes Lied singen können, jedes Genre beherrschen vom animierenden Popsong „Mein Herz“ über das fröhliche zeitgenössische Kabarett-Chanson „Ich bin verrückt nach jedem 2019-01-17 kaiser & plain besetzungscouch - bka 60x45 - foto © carlo werndl von lehenstein 35neuen Pianisten“ (Jeske/ Bielfeldt) bis zum klassischen französischen Chanson. „La solitude“ von Barbara bringt Virginia – wie es sich gehört – ernst und fast bewegungslos am Mikrofonstativ, auf Deutsch als „Einsamkeit“(Übersetzung: D. Kaiser), und die ist nun mal nichts anderes als eine miese Stalkerin. 

Sehr beeindruckend auch und vom Publikum bejubelt David Kaisers Solo „Ich bin schwul“ als bekennende Reaktion auf den Anbaggerungsversuch der zielstrebigen Sängerin. 

Au Backe, aber was sollen die beiden nur für die große Las-Vegas-Show einstudieren? Ihr „Kiss me tiger“ ist zu schlecht, findet David und bricht ab. Vielleicht hilft als Kostüm „Palette“? Amerika, Kurt Weill? „Exil ist doch gleich neben Las Vegas.“ Mit Staatstheater-Drama bringt Virginia das Kurt-Weill-Medley, aber David hat geografische Einwände: Alabama und Bilbao, beides zu weit weg von Las Vegas.

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Die dritte, auf der Bühne unsichtbare Person, deren Handschrift dieses gelungene Programm trägt, heißt Rainer Rubbert. Der Musiker, Komponist und gleichermaßen Kenner der kleinen und der großen Musik-Kunst hat nicht nur Regie geführt sondern Kaiser & Plain zu diesem umfassenden musikalischen Rundumschlag inspiriert.

Warum das Stück „#Besetzungscouch“ heißt, kann man schon den ganzen Abend lang unterschwellig spüren. Die Auflösung verrät Virginia Plain am Schluss – jetzt nicht mehr als ulkige Knalltüte sondern in lodernder, radikaler Empörung – mit „Zeit“ („Time“, The Scorpions). Denn „nein“ heißt „nein“. Absolut sehenswert!

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©2019

Fotos: Ritter von Lehenstein

BKA-TheaterKaiser & Plain

Problemfall Automobil – Premierenkritik academixer

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2019-02-03 Premiere Geile Karre - academixer - Foto © Carlo Werndl von Lehenstein 00285

„Geile Karre“ – neues Programm der academixer

von Harald Pfeifer

LEIPZIG – In der Bühnenmitte steht eine Couch. Eine Dame und drei Herren spielen darauf und rundherum Kabarett. Die Überschrift (Geile Karre) ist das größte Klischee am Abend und das Sujet ein überaus populäres. Es geht ums geliebte wie gehasste Automobil samt aller aktuellen Diskussionen. Eine Massenbewegung, die längst die Politik auf eine Weise bestimmt, die mit Demokratie oft nicht mehr viel zu tun hat.

Zunächst ist die Couch erst einmal Kommandozentrale. Außerirdische setzen zur Landung an, sie wollen wissen, was auf der Erde so passiert. Schnell wird ihnen klar, da gibt es nur zwei Lebewesen: Die einen auf Beinen und die anderen auf Rädern.

2019-02-03 Premiere Geile Karre - academixer - Foto © Carlo Werndl von Lehenstein 00003

Damit ist das Thema des Abends umrissen, und nun erlebt man ein Nummernprogramm rund um Mobilität, Gesellschaft und Streitkultur. Hochpolitisch und ebenso zutiefst menschlich. Es ist ein Thema, bei dem die Verhaltensmuster schnell sichtbar werden. Überraschen kann man deshalb allerdings nur sehr schwer.

Die Couch ist immer dabei. Mal als PKW (die Lehne als Rücksitz), mal als Sitzgelegenheit oder als Klettergerüst. Wie ticken die Menschen, wollen die Fremden wissen. Es werden also die Wesenszüge der Erdenbürger diskutiert. Die sind nicht gerade schmeichelhaft. Da sind Bequemlichkeit als Lebensprinzip oder die verbreitete Bildschirmgläubigkeit, Missgunst und dann noch der ganze Schwindel. Die Außerirdischen fragen sich „Wie hat es die Gattung eigentlich geschafft?“. In großen Sprüngen bekommt man die Weltgeschichte der Mobilität vorgeführt. Vehikel aller Art als Statussymbol, als Männlichkeitsersatz oder auch als Wunder der Technik.

2019-02-03 Premiere Geile Karre - academixer - Foto © Carlo Werndl von Lehenstein 00127

Man erlebt eine mit Tempo gespielte Nummernfolge über den Problemfall Automobil. Ein Taxifahrer erzählt über den Straßenverkehr, Autobosse einigen sich mit Verkehrsminister Andreas Scheuer, Edelkarossen lästern über ihre Besitzer, Mutter, Vater, Kind auf dem Weg in den Urlaub sind auch dabei, und schließlich wird aufgeklärt, zum fahrbaren Untersatz gibt es nur eine wirkliche Alternative: Fußball. Sprüche wie „Emotionen sind wichtiger als Fakten.“ geben die Richtung an und schließlich steht die Frage, wozu all die Entwicklungswut, wobei doch die Konsequenzen längst nicht mehr zu übersehen sind. Die Antwort ist kurz und unmissverständlich: „Weil man es kann.“

2019-02-03 Premiere Geile Karre - academixer - Foto © Carlo Werndl von Lehenstein 00100
2019-02-03 Premiere Geile Karre - academixer - Foto © Carlo Werndl von Lehenstein 00079

Freilich hat man über Verkehr und Verkehrsmittel schon so viel geredet, dass da kaum ein Aspekt vollkommen neu ist. Aber den Problemfall Automobil so geballt ins Bewusstsein des Zuschauers zu rücken, gehört halt auch zu den Aufgaben des Kabaretts. Am eindrucksvollsten ist das Gespräch eines vernetzten PKWs mit seinem Besitzer. Das erklärt plastisch, wie sehr die Apparate ihren Besitzern bereits überlegen sind. Die haben die Kontakte wie auch das Knowhow, und ohne ihre Zustimmung bewegt sich in naher Zukunft ohnehin kein Auto mehr. Der Mensch ist seinen Erfindungen erlegen.

2019-02-03 Premiere Geile Karre - academixer - Foto © Carlo Werndl von Lehenstein 00154

Mit dem Programm „Geile Karre“ erlebt man bei den academixern amüsantes, hemdsärmeliges, etwas auf verrückt getrimmtes Kabarett. Das Textbuch stammt von Thilo Seibel, mitgeholfen haben Elisabeth Hart, Laura Engel und Hans Holzbecher. Auf der Bühne stehen Elisabeth Hart, Jens Eulenberger, Peter Treuner sowie Felix Constantin Voigt und überzeugen mit einem für das Kabarett in der Leipziger Kupfergasse ungewohnten, fast überraschenden Spiel. Es erinnert etwas an das vom Düsseldorfer Kom(m)ödchen. Aus gutem Grund, hier saß der gleiche Regisseur am Pult: Hans Holzbecher.

Und nicht unerwähnt soll der grandiose Komponist, Arrangeur und Pianist Ekky Meister bleiben. Seine Musik ist immer wieder beeindruckend. Der ganze Abend macht Freude, selbst wenn man sich eine Ost-Nummer mit Trabbi und Ostalgie nach dreißig Jahren nun langsam mal hätte sparen können.

2019-02-03 Premiere Geile Karre - academixer - Foto © Carlo Werndl von Lehenstein 00256

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Fotos: Ritter von Lehenstein

alle weiteren Termine auf der Website der academixerworld of friends

Bowie forever: Ein expressiv-exzentrisches Denkmal

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Sven Ratzkes Deutschland-Premiere »Where Are We Now« in der Bar jeder Vernunft

von Axel Schock

BERLIN – Er kommt nicht von ihm los. 2015 hatte sich Sven Ratzke mit „Starman“ schon einmal mit den unendlichen Weiten von David Bowies Universum beschäftigt. Mit Zustimmung des Meisters himself hatte sich der Deutsch-Niederländer vor allem die Glamrock-Songs der Siebziger herausgegriffen und sie mit seinen irrlichternden, surrealen Geschichten kombiniert. Mit der zu Recht gefeierten Show hat Ratzke die halbe Welt bereist, und wahrscheinlich könnten er und seine Band damit auch noch heute touren.

Ratzke aber hat stattdessen neue Programme erarbeitet. Für diese Entscheidung dürfte auch Bowies Tod im Januar 2016 eine Rolle gespielt haben. Nun widmet sich Sven Ratzke erneut dem musikalischen Werk des britischen Popgenies, doch anders als „Starman“ ist „Where Are We Now“ ganz bewusst als Hommage konzipiert.

Fraglos jeder, sagt Sven Ratzke, verbinde auf die eine oder andere Weise etwas mit der Musik Bowies, und sei es nur, dass einer seiner allgegenwärtigen Songs bei einer besonderen Gelegenheit zufällig im Radio lief. Sven Ratzke hat freilich eine ganze Menge solcher Erinnerung parat. Die Geschichte, wie er an die Aufführungsrechte für die Bowie-Songs gelangte, gehört genauso dazu, wie die versponnenen Schilderungen aus dem Berliner WG-Leben von Iggy Pop und David Bowie einst in Schöneberg. Viele davon sind, wie so oft bei Ratzke, wunderbar erfundene (Halb-)Wahrheiten. Dass Iggy Pop und David Bowie tatsächlich im LSD-Rausch nächtens vom Dach des KaDeWe über West-Berlin schauten, dürfte zweifelhaft sein. Für diesen Moment aber nehmen wir Ratzkes Geschichte allzu gerne für bare Münze. Denn wie er sie erzählt und sein Pianist Christian Pabst sie dezent und fast unmerklich musikalisch untermalt, erschaffen die beiden eine entrückt-poetische, manchmal auch elegisch-melancholisch Atmosphäre.

So frivol, spontan und expressiv-exzentrisch Sven Ratzke auch in dieser Show wieder als geborener Entertainer die Stimmung im Zelt der Bar jeder Vernunft dirigiert, in seiner Song-Auswahl bzw. deren Interpretationen findet er dennoch immer zu einem sehr zurückgenommenen, intimen Rahmen zurück. Ratzke und Pabst haben die Bowie-Songs auf das Wesentliche reduziert. Nicht nur Bowie-Klassiker wie »Space Oddity«, »Heroes« oder »Life on Mars«, sondern selbst eine Dancefloor-Nummer wie »Let’s Dance« wandelt sich hier zur Ballade. Immer wieder beeindruckt Pabst durch seine Virtuosität und enorme Bandbreite musikalischer Mittel, mit denen er selbst Rocknummern zu reiner Klavierbegleitung transformieren kann. Mal dient der Korpus des Flügels als Perkussionsinstrument, mal verlängert er die Melodien in jazzige Improvisationen, oder er erzeugt mit wenigen hingetupften Klängen Gänsehaut.

Ratzkes Timbre ist dabei – in allen Tonlagen – auf fast beängstigende Weise nahe am Vorbild, doch ohne dass er sich gezielt als Stimmenimitator produziert. Er macht sich seine Songs zu eigen und zeigt doch größten Respekt und Hochachtung. Damit beweist er einmal mehr, wie großartig Bowies Texte und Kompositionen sind und sie auch als Popchansons nicht an Kraft verlieren. Und nicht zuletzt bekräftigt Ratzke mit diesem Abend seinen Status als phänomenaler, wandlungsfähiger Sänger, Conférencier und Allroundkünstler. Ein Gesamtkunstwerk, das in der Bar jeder Vernunft mit Standing Ovations gefeiert wurde.

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Fotos: Hanneke Wetzer

Tourtermine von Sven Ratzke und Christian Pabst (Flügel) mit „Where Are We Now“

Das gleichnamige Album zur Show ist auf CD und LP erschienen.

Kleine Häppchen vom großen Mythos

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Die Revue „Berlin Berlin“ versucht sich am verruchten und vibrierenden Entertainment der „Goldenden 20er Jahre“

von Axel Schock

BERLIN – Wer auch immer sich den Begriff der „Goldenen Zwanziger Jahre“ einst ausgedacht hat, er oder sie war ein genialer Marketingstratege. Denn „golden“ war dieses Jahrzehnt lediglich für die Happy Few, die nicht als Arbeitslose oder verarmt ums Überleben kämpften oder menschenunwürdig in Mietskasernen mehr vegetierten, denn lebten. Die lichterglänzenden Etablissements am Tauentzien, am Potsdamer Platz oder am luxuriösen Ende der Friedrichstraße konnten sich die Durchschnittsberliner kaum leisten. Der Glamour dieser Tage aber ist längst zum märchenhaften Mythos geronnen, der nun, ein Jahrhundert später, einmal mehr fasziniert und inspiriert. Volker Kutschers Romanreihe und die Netflix-Verfilmung unter dem Titel „Babylon Berlin“ haben den sich wandelnden Geist und die widersprüchliche Gesellschaft zwischen Rausch und Verderben eindringlich erfasst und damit einen neuerlichen Hype ausgelöst.

Mit einer „Großen Show der goldenen 20er Jahre“ hat der Theaterproduzent Mehr-BB Entertainment nun das passende Live-Event dazu aus der Taufe gehoben, das ab Januar dann auch durch Deutschland touren wird.

Dass der Admiralspalast ohnehin seit geraumer Zeit in der Hand des Düsseldorfer Kulturunternehmens ist, ist für diese Produktion geradezu ein Glücksfall. So konnte Christopher Biermeier, Autor und Regisseur dieser musikalischen Revue, sich unmittelbar auf die bewegte Geschichte des traditionsreichen Hauses berufen. Herman Haller hatte dort von 1923 an mit die spektakulärsten Ausstattungsrevuen der Stadt realisiert und neue Standards für diese Form der Unterhaltungskultur gesetzt. Doch „Berlin Berlin“ zeigt daran leider wenig Interesse. Nicht eine der Kompositionen Walter Kollos, die für diese Haller-Revuen geschrieben und unmittelbar auf Schallplatte gepresst zu Schlagern wurden, findet sich unter den rund 30 Musikstücken, die im Laufe des Abends auf die eine oder andere Weise zur Aufführung gelangen.

Es ist eine wohlgemerkt überraschende Titelliste, wobei damit leider keine Ausgrabungen und Neuentdeckungen aus der musikalisch außerordentlich produktiven Ära gemeint sind. Überraschend ist vielmehr, wie allzu naheliegend und zugleich abwegig die Auswahl der Musiknummern ausgefallen ist.
Der Auftaktsong „Puttin‘ on the Ritz“ aus der Feder von George Gershwin, Cole Porters „Let‘s Misbehave“, Cab Calloways Scat-Classic „Minnie the Moocher“ oder Fats Waller „Ain‘t Misbehavin“ werden von der achtköpfigen Liveband zwar mit Verve über die Rampe gebracht, versetzen aber das Publikum musikalisch doch eher an den Broadway, denn ins Berliner Nachtleben. Wie gut, dass Josephine Baker einst in der Stadt gastierte und auch auf diesem Tourstopp für Furore sorgte. Grund genug also für Dominique Jackson das ikonografische Bananenröckchen überzuwerfen und für eine auch stimmlich beeindruckende Jazznummer zu sorgen.

„Wir erleben das authentische Berlin, die Stars und Sternchen dieser Zeit“ hatte Autor Biermeier in einem Vorabinterview den Zuschauern versprochen, und es auch tatsächlich so gemeint. Der dürre dramaturgische Faden verbindet mehr schlecht als recht Musik und Shownummern entlang einer Handvoll Persönlichkeiten. Die Comedian Harmonists etwa liefern direkt nach der Pause etwas unvermittelt einen Best-of-Block ihrer A-Capella-Schlager, und weil ein paar Straßen weiter 1930 „Das Weiße Rössl am Wolfgangsee“ seinen Siegeszug durch die Welt antrat, werden auch hier die bekanntesten Melodien in ein krachledernes Medley gepackt. Auch die „Dreigroschenoper“ hatte nicht unweit ihre Uraufführung erlebt, und so sehen wir in einer wohl satirisch gemeinten Szene die Herren Brecht und Weill, wie sie am Kneipentisch kurz vor der Premiere noch schnell den „Haifischsong“ aus dem Ärmel schütteln. Oder Marlene Dietrich (Nina Janke), die sich fürs Vorsingen bei Joseph Sternberg vorbereitet, um dann erwartungsgemäß die Hits aus dem „Blauen Engel“ zu präsentieren. Dass sie da schon einen Hosenanzug trägt, den sie in Wahrheit erst in Hollywood zu ihrem modischen Markenzeichen gemacht hat – wen kümmert’s.

Ohnehin nimmt es diese Revue mit biografischen Fakten und der zeitlichen Ausdehnung der 20er Jahre nicht so genau. Ein großer Teil des verwendeten musikalischen Materials stammt aus den 30er Jahren – oder gleich aus dem Musical „Cabaret“ von 1966. Fatalerweise sind gerade diese Nummern sängerisch-musikalisch die eindrucksvollsten der Show. Sophia Euskirchen, lange Zeit die Sally Bowles in der „Cabaret“-Produktion des Berliner Tipi am Kanzleramt, gelingt es, etwa mit dem Song „Mein Herr“ eine tiefergehende Ebene jenseits des reinen Entertainments anzuschlagen. Die moderierenden Zwischentexte des Conférenciers (Martin Bermoser) – mit Sebastian Prange als berlinerndem Sidekick Kutte („wie Nutte, nur mit K“) – umkreisen zwar ein ums andere Mal das Laster, den Glamour und die unbändige Freiheit jenes Jahrzehnts, doch der vielfach beschworene Rausch, die Erotik und die Sexisness bleiben Behauptung. Und wie in „Cabaret“ nimmt auch in „Berlin Berlin“ alsbald der vielzitierte ausschweifende „Tanz auf dem Vulkan“ ein braunes Ende. Ein Störenfried krakeelt „Lügenpresse“ und „Negerjazz“, und hinter einer überdimensionalen Hakenkreuzfahne erahnen wir schattenhaft die Vertriebenen, Emigrierten und Ermordeten, die Werner Richard Heymanns Slowfox-UFA-Filmschlager „Irgendwo auf der Welt gibt’s ein kleines bißchen Glück“ zu einer sehnsuchtsvolles Abschiedsballade werden lassen.

Weil man einen Entertainmentabend aber freilich nicht so düster ausklingen lassen mag, setzt Biermeier geradezu folgerichtig ein Lied an den Schlusspunkt, das diese Show wohl erst ermöglicht hat: „Asche zu Asche“, den fraglos furiosen Titelsong von „Babylon Berlin“, von dessen Originalchoreografie man auch gleich großzügig Anleihen genommen hat. Wie hat Christoph Biermeier in seinem PR-Interview noch gesagt? „Wir erleben das authentische Berlin“. Authentisch meint also vor allem, die Bilder und Klischees, wie sie nicht zuletzt auch durch „Cabaret“ und „Babylon Berlin“ kolportiert und verfestigt worden sind.

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Fotos: Ritter von Lehenstein

Bis 8. Januar im Admiralspalast Berlin. Weitere Aufführungen in München (Deutsches Theater, 7.-19.2.), Köln (Musical Dome, 21.1.-2.2.2020), Düsseldorf (Capitol Theater, 4.-9.2.), Hamburg (Kampnagel, 11.-16.2.), Stuttgart (Theaterhaus, 18.-23.2.).

Mit Stock und morbidem Reim rockt die Knef das Altersheim

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2020-01-30 Knef - Barrierefrei - 01 Foto © Carlo Werndl von Lehenstein

Mit ihrem neuen Programm „Barrierefrei“ zelebriert Ulrich Michael Heissig alias Irmgard Knef die Last und Lust des Alterns

von Axel Schock

BERLIN – Für einen fortgeschrittenen Geburtstag fällt die Deko etwas spärlich aus. Zwischen zwei Luftballons schweben da noch, silbrig glänzend, eine aufblasbare 9 und 5. So glamourös stellt man sich dann wohl die Feierlichkeiten im Tagungsraum eines Altersheims vor. Nun ja, genaugenommen feiert Irmgard Knef ihr halbrundes Jubiläum in der Berliner Bar jeder Vernunft und zudem auch ein wenig verfrüht. Denn erst im kommenden Dezember vor 95 Jahren hat sie, so will es die Legende, mit Zwillingsschwester Hildegard in Ulm das Licht der Welt erblickt. Und während die große Schwester Weltkarriere machte, mühte sich Irmgard ihrerseits, wenn auch weniger erfolgreich, ebenfalls um Ruhm und Karriere. Seit nunmehr 20 Jahren und– je nach Zählung – in mittlerweile sieben bzw. acht Programmen und diversen Specials – spinnt ihr Schöpfer und Darsteller Ulrich Michael Heissig diese Existenz im Schatten Hildes weiter.

2020-01-30 Knef - Barrierefrei - 04 Foto © Carlo Werndl von Lehenstein

Doch Irmgard ist nicht nur Zeitzeugin einer gelegentlich alternativen Berlin-Geschichte, vor allem aber ist das für sie kein Mittel zum Zweck für sentimentale Nostalgieanwandlungen. In „Barrierefrei“ wird Irmgard Opfer der Gentrifizierung wie auch ihrer nachgiebigen Hüften und so zieht sie nach einem Sturz als nunmehr „gefallenes Mädchen“ nach über 70 Jahren notgedrungen in eine Charlottenburger Seniorenresidenz. „Zum ersten Mal eigenes Personal!“, frohlockt Irmgard, und seien es auch nur Krankenpfleger und Kantinenköche. Als Dauergast im „Hotel Inkontinental“ weiß Irmgard nicht nur von geriatrischem Schabernack mit Hämorrhoidensalbe und Haftcreme zu erzählen, sondern macht auch Bekanntschaft mit Krankenpfleger Kevin, der nicht so recht zwischen Fontane und Lafontaine zu unterscheiden weiß und mit einer auf greise Kundschaft spezialisierten slawischen Sexarbeiterin, der „Nitritt von Moabit“.

2020-01-30 Knef - Barrierefrei - 03c Foto © Carlo Werndl von Lehenstein

Mag Irmgard auch mit einem Gehstock die Bühne entern, sie ist mit (fast) 95 noch ganz schön helle, schlagfertig, in Maßen schamlos und Up-to-date. Ulrich Michael Heissig legt der rotzig-rüstigen Dame einen wohlformulierten und mit tagesaktuellen Details und Anspielungen zum Zeitgeist gespickten Monolog in den Mund. Mit einer unermüdlichen und sprachverliebten Lust am Wortspiel führt er Wortfamilien und -assoziationen zu höchst sinnigen wie versponnenen Pointen. Über zwei Stunden halten Heissig und Irmgard im Alleingang das Publikum bei der Stange und bei bester Laune. Das ist nicht nur darstellerisch eine immense Leistung, es ist vor allem für Irmgard-Knef-Kenner eine freudige Überraschung, welche immer wieder neuen Facetten Ulrich Michael Heissig als Autor und Darsteller seinem Kunstgeschöpf abzugewinnen vermag.

2020-01-30 Knef - Barrierefrei - 10 Foto © Carlo Werndl von Lehenstein.JPG

Die jazzig angehauchten, höchst professionell und stilistisch vielseitig eingespielte Musik kommt, wie in den meisten anderen Programmen, auch hier vom Band. Die Songexte hat Heissig wie stets mit viel kabarettistischem Witz und einem Faible für originelle Endreime ganz auf Irmgard zugeschnitten. Da wird aus Hildes „Im 80. Stockwerk“ ein Lied über das immobile Leben im Erdgeschoss, die unverwüstlichen „Roten Rosen“ sind bei Irmgard schlichtweg ausverkauft und in der Neufassung vom „Heimweh nach dem Kurfürstendamm“ schildert sie den trost- und gesichtslosen Zustand der einstigen Flaniermeile. Doch längst haben auch Songs jenseits des Knef-Repertoires in die Programme Einzug gehalten. So hat Rainer Bielfeldt mit „Barrierefrei“ den Titelsong der neuen Show vertont und wo Friedel Hensch und die Cypris einst auf die amourösen Folgen von Alkohol mit dem Stoßseufzer „Ach Egon, Egon, Egon“ reagierten, schmachtet Irmgard heute zur gleichen Melodie und mit neuem Text ihren „lieben guten Pfleger“ an. Mag Irmgard vor allem in ihren Chansons, ganz wie ihre große Schwester, dann doch eher nachdenklich-melancholische Töne anschlagen und zuletzt auf eine Gehhilfe gestützt von der Bühne schlurfen: diese großartige Kreuzberger Alternative zu Hildegard ist alles andere als altersmüde und ausgebrannt – und „Barrierefrei“ wird hoffentlich nicht das Letzte sein, was wir von ihr hören und sehen werden. Oder um mit Lotti Huber zu sprechen: In dieser Zitrone steckt noch viel Saft.

2020-01-30 Knef - Barrierefrei - 11 Foto © Carlo Werndl von Lehenstein

©2020
Fotos: Ritter von Lehenstein

Bar jeder Vernunft, bis 9. Februar und am 20.4.
Tourstationen u.a.:
Academixer Leipzig, 13.2.
Thalhaus Wiesbaden, 14.2.
Tufa Trier, 15.2.
Kleistforum Frankfurr/Oder 19.2.
UHU Hannover, 6.3.
Volkshaus Meiningen, 7.3.
Theaterschiff Hamburg, 22.3.
Kom(m)ödchen Düsseldorf, 26.3.
Familie Malentes Theater Palast Bonn, 30.4.-10.5.
ruhrfestspiele Recklinghausen (Festivalzelt), 18.5.
Alte Fabrik Mühlhofen, 25.9.
La Capella Berlin, 15.10.
HP: (weitere Termine) Irmgard Knef


Sex, Drag and Rock’n’Roll

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Sven Ratzke & Gerhard Winterle - Foto © Ritter von Lehenstein

Sven Ratzke bringt „Hedwig and The Angry Inch“ auf die Bühne zurück – und findet für die Glam-Rock-Show eine neue Heimat im Berliner Renaissance-Theater

von Axel Schock

BERLIN – Hedwig ist wieder da. Mit einer meterlangen weißen Schleppe und einer voluminös frisierten Blondhaarperücke entert sie mit energischem Schritt die Bühne des Renaissance-Theaters. In Gestalt von Sven Ratzke erzählt, singt – ach was – durchlebt! Hedwig für das Publikum förmlich noch einmal ihre bizarre, wilde wie tragische Geschichte.

Dass „Hedwig and the Angry Inch“ erst 2020 erstmals auf einer „klassischen“ Berliner Theaterbühne zu sehen ist, gehört zu den Mysterien, die man sich nicht so recht zu erklären vermag. Denn die Geschichte, die der Schauspieler und Filmemacher John Cameron Mitchell („Shortbus“) in seiner One-Wo/Man-Show erzählt, ist so eng mit der Stadt verbunden wie „Cabaret“ oder „Frau Luna“ und wäre eigentlich Pflichtprogramm fürs Berliner Repertoire.

Hedwigs Geschichte freilich ist noch ein Stück bizarrer als Paul Linckes Mondflug-Operette. Im Ost-Berlin der Vorwende-Achtziger verliebt sich Hänsel Schmidt in einen schwarzen GI, und um der DDR-Tristesse entfliehen zu können, lässt er sich zu einer Ehe überreden. Doch die notwendige geschlechtsangleichende Operation ist Murx und gleicht mehr einer misslungenen Kastration. Als in Berlin die Mauer fällt, sitzt Hedwig (vormals Hänsel) frisch geschieden, mittellos und einsam in einem Trailerpark in Kansas. Und auch von ihrer neuen Liebe wurde Hedwig benutzt. Tommy, dem sie das Musikentertainment beigebracht hatte, hat sie sitzen lassen und mit Hedwigs Songs eine Solokarriere gestartet.

Hedwigs Schöpfer John Cameron Mitchell hat einige Jahre seiner Kindheit in Berlin verbracht: Sein Vater war dort bis kurz vor dem Mauerfall US-Stadtkommandant. Die Figur und deren Geschichte hat Mitchell in den 90er Jahren in einem New Yorker Drag-Punk Club gemeinsam mit dem Musiker Stephen Trask entwickelt. Aus der Underground-Szene-Show wurde ein Off-Broadway-Erfolg. Cameron hat die Rolle viele hundert Mal selbst gespielt, 2001 sein Rockmusical auch verfilmt. Dass dem Film nach der gefeierten Berlinale-Premiere ein Kinostart in Deutschland wie auch die DVD-Veröffentlichung versagt blieb, ist wiederum ein Mysterium des Lizenzwesens. Immerhin: die deutschsprachige Erstaufführung des Bühnenstücks ließ nicht allzu lange auf sich warten, wurde 2002 im Glashaus der Arena in Berlin tief in den märkischen Sand gesetzt. Doch dann kam Sven Ratzke und sorgte für Hedwigs Rehabilitierung! Vor mittlerweile sieben Jahren ging er mit einer wüsten, energiegeladenen Version in den Keller des Admiralspalast auf Tuchfühlung mit dem Publikum: für ein paar Vorstellungen zog er später mit „Hedwig“ von den Katakomben unter den Himmel von Berlin, ins BKA-Theater.

Guntbert Warns, seit dieser Spielzeit Intendant des Renaissance-Theaters, hat Ratzkes Parforce-Ritt durch dieses queere Glamrock-Spektakel nun in sein Haus geholt und die Produktion für sein Theater eingerichtet. Vor allem aber hat sich Ratzke das Stück und die Figur mehr als zuvor zu eigen gemacht.

Wer Ratzke aus seinen eigenen Shows kennt, weiß um seine perfektionierte Kunst des Improvisierens und Dahinplauderns, dem fließenden Wechsel von poetischer Miniatur zur rotzigen Pointe. Hedwig, so will es das Stück – ist erstmals seit ihrer Übersiedlung in die USA wieder nach Berlin zurückgekehrt und wir wohnen dem ersten Konzert der „weltweit ignorierten Chanteuse“ in ihrer Heimatstadt bei. Ratzkes/Hedwigs Beobachtungen bei den ersten Erkundungen im Szenebezirk Prenzlauer Berg, ihre Erinnerungen an Berliner Paläste, ihre Spitzen zu den Corona-bedingt gelichteten Stuhlreihen fügen sich nahtlos in Mitchells Libretto. Sven Ratzke eignet sich die Figur an, kapert sie und bewahrt zugleich deren Geschichte und Charakter. Maria Schuster als Hedwigs neuem Lebensbegleiter Itzhak bleibt da freilich nur die Rolle eines Sidekicks.

Bei den rockigen Nummern fetzt und fegt Ratzke ausgelassen und doch stets diszipliniert über die Bühne. In den erzählerischen Passagen hingegen, in denen musikalisch leiseren und reduzierter instrumentalisierten Balladen wirkt Hedwig noch zerbrechlicher, ergreifender und tragischer als in der Inszenierung für den Admiralspalast. Vor allem aber wird deutlich, welches Format einige von Trasks Songs haben, etwa „Midnight Radio“ oder „Tear Me Down“. Die Band The Angry Inch – Florian Friedrich (Bass), Christopher Noodt (Keyboard), Hans Schlotter (Schlagzeug) und Jan Terstegen (Gitarre) – trägt nicht nur Ratzkes Performance. Sie illustriert auch abseits der Songs mit kleinen musikalischen Zitaten – von Nirvana über Johann Sebastian Bach bis Céline Dion – immer wieder die Erzählung. Das ikonische Pfeif-Intro von „Wind of Change“ genügt, um im Kopf des Zuschauers Bilder des Mauerfall hervorzurufen.

Hedwig also ist zurück. Und sie ist gekommen, um zu bleiben. Gespielt werden soll es solch künftig monatlich jeweils ein Wochenende lang als Mitternachts-Show, um so das Stück fest im Berliner Stadt- und Bühnenleben zu etablieren. Zeit wird es.

Nächste Vorstellungen: Renaissance-Theater

Foto: Ritter von Lehenstein

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