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Willy 100 – Im Zweifel für die Freiheit

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Willy100_0 - Foto Willy-Brandt-ArchivEin Theaterabend zum 100. Geburtstag von Willy Brandt
Uraufführung am 12.12.2013 im Neuen Stadthaus Berlin

von Beate Moeller

Willy Brandt ist unbestritten eine überragende Persönlichkeit der jüngeren deutschen Geschichte und einer der wenigen deutschen Politiker des 20. Jahrhunderts, der weltweit positives Ansehen genießt. Sein Name ist entscheidend mit der Geschichte Berlins verbunden. Als Regierender Bürgermeister in der eingemauerten Stadt, als Gestalter der Entspannungspolitik zwischen Ost und West, als Außenminister und Kanzler hat er sich engagiert. Gründe genug, ihm zum 100. Geburtstag ein Theaterstück zu widmen.

Herbert Frahm aus Lübeck ist 22 Jahre alt, als er im Oktober 1936 als ‚Gunnar Gaasland‘ mit falschem Pass und mit gespieltem norwegischem Akzent in die Hauptstadt Berlin reist, um sich mit wenigen Eingeweihten inkognito zu treffen und den Widerstand gegen Adolf Hitler zu koordinieren versucht. Er gerät in brenzlige Situationen…

Auch für die Bahnhofsszene bietet der Otto-Suhr-Saal die optimale Kulisse

Auch für die Bahnhofsszene bietet der Otto-Suhr-Saal die optimale Kulisse

Da wird ein Held geboren
Im Stück des Berliner Autors Johann Jakob Wurster über den späteren Friedensnobelpreisträger Willy Brandt „findet die Geburt eines Helden statt“, sagt der Berliner Kabarettist und Koproduzent Arnulf Rating. Im Blickpunkt steht eine fast in Vergessenheit geratene Episode aus dem Leben Willy Brandts: die des Widerstandskämpfers 1936 in Berlin. Das interaktive Bühnenstück mit swingender Livemusik ist schnell wie ein Videoclip, angelegt für den Darsteller des jungen Willy Brandt und mehrere Spieler, die in rasanten Rollen- und Szenen-Wechseln eine Fülle von Situationen lebendig entstehen lassen. Und immer wieder stellt sich die Frage: Wie hätte ich mich entschieden?

Das Neue Stadthaus bietet mit seiner Behördenarchitektur der dreißiger Jahre eine ideale Kulisse. Das Publikum wird über mehrere szenische Stationen im Gebäude unmittelbar an das Geschehen herangeführt.

Lorris André Blazejewksi spielt den jungen Willy Brandt

Lorris André Blazejewksi spielt den jungen Willy Brandt

Cast:
Lorris André Blazejewksi als Willy sowie Juliane Köster, Thomas Lotz, Natascha Petz, Thorsten Tinney, Nicolas Weidtman

Termine:
Uraufführung: Do 12.12.2013
weitere Vorstellungen:
Dezember: Fr 13. – So 15.12.2013 | Di 17. – So 22.12.2013 | Sa 28.12. | So 29.12.2013
Januar: Do 02. – So 05.01.2014 | Di 14.01. | Mi 15.01.2014
Beginn: Di-Sa 19:30h | So 17h
Kartenpreise:
So-Do 26,- / 18,- ermäßigt | Fr/Sa 29,- / 20,- ermäßigt
Tickets Telefon: 030 – 84 10 89 09

Ort:
Otto-Suhr-Saal, Neues Stadthaus, Parochialstr. 1-3, 10179 Berlin, U-Bhf Klosterstraße

Für Schüler und Jugendgruppen gibt es zwei Vormittagsvorstellungen am Mi, 18.12. und am Fr, 20.12. um 11 Uhr. Tickets mit Sonderkonditionen und für diese Sondervorstellungen sind über Theater Stahl Berlin buchbar: Telefon 030 – 695 99 222 oder tickets@theater-strahl.de

Fotos: Willy Brandt, 1937: Willy-Brandt-Archiv im Archiv
der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn
Cast: Beate Moeller © 2013 BonMoT-Berlin

weitere Infos auf der Homepage von Willy 100 – Im Zweifel für die Freiheit



Rainald Grebe & Das Orchester der Versöhnung mit „Berliner Republik“ – Premierenkritik

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Rainald Grebe_1 - Foto Carlo WankaFulminante Show

von Axel Schock

BERLIN – Fangen wir einfach mal mit dem Schluss an. Dort hat Rainald Grebe jenes Lied platziert, das ihm Ruhm und breiten Bekanntheitsgrad gebracht hat, ihm mittlerweile aber auch ein wenig lästig sein dürfte. Eben das, was für Rex Gildo „Hossa Hossa“ und für Helge Schneider das „Katzeklo“ war: ein massenkompatibles Missverständnis.

Grebe ist Kulturdienstleister genug, um zu wissen, was sein Publikum erwartet, und liefert – ganz großes Kino. Was die zehnköpfige Band so drauf hat, konnte man bereits in den knapp drei Stunden davor bestaunen und genießen. Für die Zugaben hat er sich zudem noch sein munteres Altherren-Streichquartett aus seiner letzten Tourproduktion auf die Bühne geholt.

Mit versammelter musikalischer Kraft kostet Grebe jede feine Nuance seines unverwüstlichen „Brandenburg“-Bashings aus. Im Refrain, dem verheißungsvoll geschmetterten „Halleluja Berlin“, werden schließlich alle Geschütze aufgefahren: Buddy Casino lässt seine Orgel jaulen, die vier Blechbläser schmettern, das Stakkato des Männerquartetts schraubt sich gen Himmel. Und Grebe, hoch über den Musikern inmitten eines Speerschen Lichterdoms stehend, reißt die Arme empor und verharrt in seiner Pose. Wer in diesem Moment keine Gänsehaut verspürt, muss ein Eisklotz sein.

Vor ziemlich genau drei Jahren feierte Rainald Grebe mit seinem Orchester der Versöhnung an gleicher Stelle schon einmal Premiere einer neuen Show. Und Show muss man das schon nennen, was Grebe hier auf der großen Bühne des Admiralspalastes veranstaltet. Musiker und Kabarettist ist Grebe genau genommen erst im Zweitberuf geworden. Seine künstlerischen Wurzeln liegen beim Theater. Er kennt dessen Mittel und weiß sie auch mit Bravour einzusetzen. 2010 griff Grebe in die Vollen und zauberte dabei eine dadaistische Revue auf die Bühne, als wär’ sie von Christoph Marthaler inszeniert worden.

Rainald Grebe_2 - Foto Carlo Wanka

In der Pause schon gefacebookt: Das Publikumsfoto aus dem ersten Teil mitsamt den ersten Kommentaren auf der Leinwand.

Beim neuen Programm „Berliner Republik“ arbeitet Grebe mit einer Armada an Scheinwerfern, mit der man spielend ein Stadion mit Licht fluten könnte; nicht weniger wichtig ist die Leinwand auf der Bühnenrückseite, auf der Fotos und Videoeinspieler die zwei Dutzend neuen Songs bebildern. Bei diesen Liedern bleibt sich Grebe treu. Mal steigern sie sich zu infernalischen Hymnen, mal hetzt er Rappern gleich durch seine spitz formulierten Zeitgeistbeobachtungen. Und wohl niemand anderes wagt so abwegige Hooklines wie er. Aktuelle Beispiele: „Crowdfunding“ und „Multitasker“.

Wenn dereinst uns nachfolgende Generationen sich ein Bild über den Zustand dieser Republik und gewisser Milieus machen wollen, wird ihnen Grebes Liedgut beste Dienste erweisen. Der besser verdienende Teil der Generation Merkel wird in „Kokon“ mit Zweitwohnsitz auf dem Land, Dachterrasse und Spareinlagen verbal gemarkert. Gleich in zwei Songs seziert Grebe die Phrasen von Künstlern und Theatermachern. In „Brunchen“ wiederum lauscht er der neuen konservativen Mitte von Berlin ihre Worthülsen und Befindlichkeiten ab. Wenn es darum geht, in wenigen Sätzen und Begriffen Geisteshaltungen, Gesellschaftsphänomene zu fixieren, spielt Grebe in einer Liga mit Pigor & Eichhorn – wenn auch nicht immer in der gleichen Schärfe und Tiefe.

Rainald Grebe_3 - Foto Carlo WankaManchmal ist Grebe etwas zu schnell mit sich zufrieden. Oder anders formuliert: Er weiß, wann ein Gag zu Tode geritten ist. Dann dauert ein Song eben auch mal nur zwei Verszeilen lang. Oder es genügt ihm, zum funkigen „Superstition“ seines formidablen Orchesters mal kurz mit übergroßer Stevie-Wonder-Brille auf die Bühne geführt zu werden, und schon geht’s auch weiter im Programm. Bassist Serge Radke wiederum muss eine Nummer lang auf dem Fitness-Laufband spielen. Nicht alles muss sinnig sein, solange es Spaß macht. Und Spaß macht Grebes neue Show, den Zuschauern wie auch seinen Musikern. Die dürfen sich an Polka und Sirtaki-Klängen austoben und auf den Spuren der Andrew Sisters wandeln. Vor allem aber degradiert sie Grebe nicht zu angestellten Instrumentenbedienern, sondern bindet sie als gleichwertige Akteure mit ins Bühnengeschehen ein.

Und die titelgebende Berliner Republik? Die beginnt bei Grebe geradezu traumatisch auf dem Brandenburger Tor, bevor er mit uns (auf der Leinwand) das Land überfliegt und uns singend statisches Zahlenmaterial um die Ohren haut. In „Meine Heimat“ wiederum erlebt er sie im Tourbus quer über Landstraßen und Autobahnen mit starrem Auge auf die Leitplanken, und DJ Smoking Joe liefert einen hypnotisch-elektronischen Soundteppich dazu. Erfahrungsgemäß kristallisieren sich aus jedem Grebe-Programm zwei, drei Songs heraus, die über den Tag und das aktuelle Programm hinaus ihre ureigne Qualität beweisen. „Meine Heimat“ könnte solch ein Lied werden. Demnächst also im Zugabenblock, direkt vor „Brandenburg“.

Noch bis zum 30.12.2013 im Admiralspalast in Berlin
Beginn der Deutschlandtour am 1. April 2014
Tickethotline für die Berliner Vorstellungen: 030-479 974 77,
für die Tour-Stationen 01806-57 00 99

Homepage Rainald Grebe

Fotos: © 2013 BonMoT-Berlin


Tunten, Trash und Tränen – Premierenkritik

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Les Cagelles 01 - Foto © Adrienne GerhäuserDie Bar jeder Vernunft verwandelt sich für “La Cage aux Folles” – “Ein Käfig voller Narren” zum Broadway en miniature

von Axel Schock

BERLIN – Oberammergau hat seine Passionsspiele, Berlin die Bar jeder Vernunft. Auch da gibt’s im Zehn-Jahres-Rhythmus eine neue, ganz große Show jenseits des klassischen Programms aus Kabarett, Chanson und Entertainment.

Das „Weiße Rössl“ von 1994 (unter anderem mit Max Raabe, den Geschwistern Pfister und Otto Sander) ist längst Operettenlegende. Vincent Paterson‘s Kammerversion des Musicals „Cabaret“ (2004) wurde wegen des immensen Erfolges mehrfach wieder aufgenommen und zog konsequenterweise ins große Schwesterhaus, das Tipi am Kanzleramt.


Das Rätselraten um die Nachfolgeproduktion hatte da unter den Fans des Berliner Theaters längst begonnen. Gesucht war ein musikalisches Bühnenstück, für das sich Connaisseurs und Bustouristen gleichermaßen begeistern können, das sich gegen best ausgestattete Staatstheater und kommerzielle Musicalbühnen behaupten und – große Herausforderung! – in der besonderen räumlichen Situation des historischen Spiegelzeltes funktionieren kann.

„Unser Sohn will heiraten - eine Frau! Was haben wir nur falsch gemacht?“ Peter Rühring und Hannes Fischer als Georges und Albin mit Fausto Israel als Butler Jacob (Foto: Adrienne Gerhäuser)

„Unser Sohn will heiraten – eine Frau! Was haben wir nur falsch gemacht?“ Peter Rühring und Hannes Fischer als Georges und Albin mit Fausto Israel als Butler Jacob (Foto: Adrienne Gerhäuser)

Die Wahl fiel, zu manch eines Überraschung, auf „La Cage aux Folles“. Für alle Nachgeborenen, Nicht-Berliner und durchschnittliche Musical-Konsumenten: Die Travestiekomödie war zunächst ein französischer Theatererfolg und 1983 von Jerry Hermann und Harvey Fierstein zu einem phänomenalen Broadway-Musical erhoben worden.

Helmut Baumann, seinerzeit Intendant des damals noch nicht der Stage Entertainment-Musical-Industrie einverleibten Theater des Westens, ebnete mit seiner deutschsprachigen Erstaufführung dieses „Käfigs voller Narren“ den Weg des bis dahin in Deutschland eher schmählich gepflegten Genres.

Doch ob diese Geschichte um einen Travestieclub in Saint-Tropez auch heute noch funktionieren kann? Sind Federboa-Fummel-Shows nicht ein aussterbender Zweig der Unterhaltungskultur, dessen frivole Witzchen allenfalls noch ein betagtes Publikum zu einem errötenden Lachen bringen kann?

Hausherr Holger Klotzbach wischt solche Fragen schon in der Begrüßung seiner Premierengäste vom Tisch. Die politischen Entwicklungen der jüngsten Zeit verschaffen dem Stück unerwartete Aktualität: In Russland etwa wurde die Homosexuellendiskriminierung Gesetz, in Uganda droht Schwulen und Lesben nunmehr lebenslange Gefängnisstrafe und in Baden-Württemberg wehren sich konservative Massen mit Petitionen gegen die Thematisierung alternativen Lebensformen im Schulunterricht.

Wären da noch die besonderen An- und Herausforderungen, die das eigentlich für große Häuser mit sattem Orchester im Graben, technischem Fuhrpark im Bühnenboden und vielköpfigem Ensemble gedachte Musical an ein Etablissement wie die Bar jeder Vernunft stellt.

Das kann nur schief gehen: Der konservative Politiker Edouard Dindon hat sich vorgenommen, die Côte d’Azur moralisch-sittlich zu säubern. Und jetzt soll Töchterchen Anne in dieses Irrenhaus hinein heiraten? Romanus Fuhrmann, Jaqueline Macauley, Nell Pietrzyk und Sebastian Stert. (Foto: Adrienne Gerhäuser)

Das kann nur schief gehen: Der konservative Politiker Edouard Dindon hat sich vorgenommen, die Côte d’Azur moralisch-sittlich zu säubern. Und jetzt soll Töchterchen Anne in dieses Irrenhaus hinein heiraten? Romanus Fuhrmann, Jaqueline Macauley, Nell Pietrzyk und Sebastian Stert. (Foto: Adrienne Gerhäuser)

Lutz Deisinger, wie schon in den genannten Vorgängerproduktionen auch hier wieder künstlerischer Leiter, hat mit seinem Team für jede dieser Herausforderungen originäre Lösungen gefunden.

Johannes Roloff, der ansonsten bei den Geschwistern Pfister für‘s Musikalische zuständig ist, hat Jerry Hermans schmissige Orchesterkompositionen für seine Fünf-Mann-Band zu einen Hammond-
orgellastigen Retrosound umarrangiert.

Ausstatter Friedrich Eggert hat das Nahe-
liegende getan: Er macht die Bar jeder Vernunft selbst zum titelgebenden Travestieclub, das Spielgeschehen drängt immer wieder von der Bühne hinunter in den Zuschauerraum hinein. Die Holzpfeiler des Zeltdachs sind nun zu goldfarbenen Palmenstämmen mutiert, auf der Bühne stützen zwei wohlgeformte antikisierende Männertorsi das Gebälk, deren erigierte Gemächte sorgen für das entscheidende Extra an Verruchtheit, Campness und angestaubter Frivolität.

Hakan T. Aslan, Vanni Viscusi, Christoph Jonas und Andreas Renee Swoboda beweisen, dass auch mit lediglich vier mal zwei in die Höhe fliegenden Beinen eine Girlreihe zu zaubern ist und man auch in kleinerer Besetzung eine große Lido-taugliche Show zu entfachen vermag. (Choreografie Otto Pichler).

Wird in der fulminanten Eingangsnummer mit ordentlich viel Federpuscheln noch dem erotischen Charme vergangener Travestie-Jahrzehnte gehuldigt, verschiebt sich das von Falk Bauer kreierte Kostümspektrum alsbald hin zu einer opulenten Melange aus Kreuzberger Tuntentrash, S/M-Keller und futuristischen Designexplosionen from outer space.

Georges und Zaza – Foto © Sandra BasenachIrritierend war anfangs lediglich die Besetzung der Hauptfiguren, Peter Rühring als Chef und Conférencier des „La Cage aux Folles“ und Hannes Fischer als dessen Lebengefährte und betagter Travestiestar Albin alias Zaza. Anders als dereinst Helmut Baumann können die beiden reifen, 66 und 71 Jahre alten Männer nicht auf Musicalerfahrung zurückgreifen und stimmlich nicht unbedingt vom Hocker reißen.

Dass Zaza eine Grande Dame und Legende des Cabarets sein soll, bleibt deshalb zunächst nur Behauptung. Aber spätestens zur Pause spielt dies alles keine Rolle mehr.

Denn unter Bernd Mottls Regie haben sie ihr Publikum auf ganz andere Weise für sich gewinnen können: als ein auch nach 30 gemeinsamen Jahren noch in tiefer Liebe verbundenes Männerpaar, das trotzig, stolz und gegen alle Konventionen (neudeutsch: heteronormative Geschlechterrollen) seinen eigenen Weg gefunden hat. Dazu gehört, dass sie gemeinsam Jean-Michel (Sebastian Stert), die Frucht eines einmaligen Fehltritts von Georges, aufgezogen haben. Dass der nun ausgerechnet die Tochter eines erzkonservativen, homosexuellenfeindlichen Politikers und selbsternannten Saubermanns (Romanus Fuhrmann) heiraten will, lässt die Situation komödiengerecht eskalieren.

Hannes Fischer hat man da sowohl als Zaza als auch als Albin längst ins Herz geschlossen, ihn als zickige Diva belacht, als zu Recht gekränkte Ersatzmutter bemitleidet und in der heroischen Matronenhaftigkeit bewundert. Und als Zuschauer hat man das gute Gefühl, sich auf hohem künstlerischen Niveau mit immer noch gut funktionierenden Pointen einer fantasievollen, glamourösen und einfallsreichen Inszenierung bestens amüsiert zu haben.

Die nächsten zehn Jahre also wird in der Bar jeder Vernunft wochen- und monatsweise immer wieder der Flitter fliegen, beziehungsweise die Produktion sicherlich in absehbarer Zeit ins Tipi umziehen.

© 2014 BonMoT-Berlin
Fotos: © Adrienne Gerhäuser(1,2,3), Sandra Basenach(4) und XAMAX(5)

Noch bis zum 31. Mai 2014 täglich außer montags (mit wenigen Ausnahmen)
um 20 Uhr, sonntags 19 Uhr
in der Bar jeder Vernunft, Schaperstr. 24, 10719 Berlin-Wilmersdorf

Karten: Euro 49,50 – 79,50
Reservierung unter Telefon 030-883 15 82
oder direkt auf der Homepage der Bar jeder Vernunft

 
Foto © XAMAX


Operettet die Republik! – Premierenkritik

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CliviaDie Geschwister Pfister erobern in der Operette „Clivia“ nun auch die Komische Oper

von Axel Schock

BERLIN – Es war nur eine Frage der Zeit, dass die Geschwister Pfister alias Tobias Bonn, Christoph Marti und Andreja Schneider, endlich auch in ihrer Wahlheimat Berlin zu Staatstheaterehren kommen würden.
Denn jenseits ihrer ureigenen musikalischen Shows als multikulturelle Wahlfamilie Pfister haben sie andernorts über viele Jahre hinweg eine Parallelkarriere in Operetten- und Musicalproduktionen aufgebaut – vom Theater St. Gallen über das Stadttheater Bern bis zum Münchner Residenztheater.


Und nun also die Komische Oper. Dort weht unter dem Intendanten Barry Kosky seit der Spielzeit 2012/13 ein wohltuender frischer Wind, der die Grenzen zwischen E und U aufgebrochen hat und sich dabei auch der durch den Nationalsozialismus jäh abgebrochenen deutschen Entertainmentkultur der 1930er Jahre erinnert – zuletzt mit Paul Abrahams wiederentdeckter Jazzoperette „Ball im Savoy“ (und der umwerfenden Katharine Mehrling) und Emmerich Kálmán „Die Herzogin von Chicago“ (mit Gayle Tufts in der Titelrolle).

„Clivia“, die 1933 am Berliner Theater am Nollendorfplatz uraufgeführte Operette, stand zwar im Nachkriegsdeutschland weiterhin auf den Spielplänen, was für einen aberwitzigen Spaß und welch musikalischen Farbenreichtum Nico Dostals Komposition zu bieten hat, dürfen die Nachgeborenen nun erst erleben.

Die Geschichte, die sich die Librettisten Charles Amberg und Franz Maregg da ausgedacht haben, kennt keinen doppelten Boden, muss nicht um- und tiefengedeutet oder zwanghaft aktualisiert werden: Sie ist und bleibt zuvörderst eine durchgeknallte Posse, die jedes erdenkliche Klischee (unter anderem über Südamerika, gewitzte Investoren, Revolutionen und Filmschauspieler) mit Verve auf die Spitze treibt.

CliviaWeil der zwielichtige Chicagoer Geschäfts-
mann im (fiktiven) südamerikanischen Boliquay durch eine revolutionäre Regierung seine Geschäfte bedroht sieht, will er dort einen Umsturz einfädeln. Um ins Land zukommen, schwingt er sich kurzerhand zum Filmproduzenten auf, und der Star des geplanten Streifens, Clivia Gray, wird dazu verdonnert, eine Scheinehe mit einem Einheimischen einzugehen, um so die boliquayische Staatsbürgerschaft und damit auch eine Arbeitserlaubnis für die gesamte Crew zu erlangen.

Dass sie sich in den auserwählten Gaucho Juan Damingo verlieben könnte (und umgekehrt), konnte Potterton freilich nicht ahnen. Auch nicht, dass es sich bei Damingo, gespielt von Tobias Bonn, in Wahrheit um Olivero, den amtierenden Präsidenten der Republik von Boliquay handelt.

Regisseur Stefan Huber und sein Team haben, im besten Wortsinne, weder Kosten noch Mühen gescheut, Dostals Werk gerecht zu werden. Der Ausstattungsaufwand ist enorm. Selbst auf die genretypische monumentale Revuetreppe wird nicht verzichtet.

CliviaIm zweiten Akt sitzt das Orchester gleich mit auf der Bühne und eine halbe Hundertschaft an Akteuren belebt die mondäne Ballszene. Andreja Schneider wiederum, Anführerin einer Amazonen-Armee, marschiert mit ihren kurzberockten Truppenangehörigen in einer türkisfarbenen Fantasieuniform so kess und schneidig durch den Grenzposten, dass man sich fast wie auf dem Rosenmontagszug fühlt.

Überhaupt formieren Choreografie und Regie das komplette Ensemble samt Chor und Tänzern immer wieder zu beeindruckenden Massenszenen, die – ganz der klassischen Revue verpflichtet – in temperamentvolle Tanznummern übergehen. Dostals Musik, in der vom Tango über Bolero bis Flamenco so ziemlich alle lateinamerikanischen Stile vermengt sind, bietet reichlich Grundlage, während einige der bekanntesten „Clivia“-Lieder eher dem klassischen Genrestandard verpflichtet sind und sich den kitschigen Niederungen des Operettenschmalzes nähern. In der Komischen Oper bannt man diese Gefahr bereits durch die Besetzung.

CliviaChristoph Martis Version der Clivia Gray ist die Summe aller Hollywood-Diven – samt ausladender Gesten, lasziver Augenaufschläge und treudoofer, reuiger Blicke. Marti hat bereits als „Csárdásfürstin“, in „Hello, Dolly“ oder als sein Country singendes alter Ego Ursula West gezeigt, wie souverän er in Frauenrollen zu schlüpfen vermag.

Und als Clivia, die optisch wie eine Wiedergeburt der wasserstoffblonden Jean Harlow daherkommt, versteht er es nun gleichermaßen galant und imposant die Revuetreppe hinunterzuschreiten, sich grazil aufs Kanapee zu werfen und sich demütig dem Geliebten zu Füßen zu werfen. Auch Tobias Bonn als Che-Guevara-Verschnitt trägt dick auf, wie auch die diversen Nebenfiguren, etwa der berlinernde Erfinder Gustav Kasulke (Christoph Späth) oder der rasende Reporter Lelio Down (Peter Renz).

Doch Huberts Inszenierung ist keine Parodie, sondern nimmt ihren Gegenstand durchaus ernst: als eine Operette, die das Genre und die darin verhackstückten Klischees selbst bereits in Anführungszeichen setzt. Erst dieser ironische Ton macht „Clivia“ im 21. Jahrhundert denn auch spielbar.

CliviaGleichwohl wird diese Produktion spalten. Freunde des Bel Canto und erst recht die Fans von Anneliese Rothenberger (die Clivia der klassischen CD-Einspielung von 1951) werden sich an Christoph Martis eingeschränkten stimmlichen Möglichkeiten stören. Verfechter des Regietheaters werden monieren, dass sie von der Komischen Oper als subventioniertem Haus mehr erwarten, als leicht konsumierbare Unterhaltung und womöglich Bezüge zu den aktuellen wirtschaftliche und politischen Krisenherde in der Welt vermissen. Und warum, wird sich manch gestrenger Operngänger fragen, müssen diese seltsamen Geschwister Pfister als Gäste ans Haus verpflichtet werden, wo das Haus doch über ein formidables Ensemble verfügt?

Ungeachtet dessen aber hat die Komische Oper einen Coup gelandet und nunmehr eine Inszenierung im Repertoire, die man so schnell nicht vergessen wird und das Premierenpublikum von den Sitzen riss. Die Vorstellungen in dieser Spielzeit sind Dank des großen Fanpublikums der Geschwister Pfister schon jetzt so gut wie alle ausverkauft.

© 2014 BonMoT-Berlin
Fotos: Gunnar Geller (1), Iko Freese/ drama-berlin.de (2-5)

nächste Vorstellungen: 14., 20., 28. März; 20. und 26. April; 23. Juni und 7. Juli 2014
Komische Oper Berlin, Kartentelefon: 030-47 99 74 00

Homepage Komische Oper

 


Bibelfest, selbstzufrieden – Pemierenkritik Oliver Polak

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Oliver Polak - Foto Daniel JosefsohnOliver Polak lotet mit „Krankes Schwein“ die Grenzen des guten Geschmacks aus

von Gilles Chevalier

BERLIN – Oliver Polak spielt sein neues Programm „Krankes Schwein“ in den Berliner Wühlmäusen. Der Clou dabei: Von ihm ist zunächst nichts zu sehen, denn die ersten zwanzig Minuten des Abends gestaltet David Deery in englischer Sprache. Das ist genauso ungewöhnlich wie der Rest des Abends.

David Deery stammt aus den USA und hat deshalb einen ganz besonderen Blick auf Deutschland und die Deutschen. Solch komische Wörter wie „Mitfahrgelegenheit“ und „Reißverschlusssystem“ gibt es im Englischen nicht. Sie sind auch nicht übersetzbar, sagt er. Sie helfen jedoch, den Deutschen zu charakterisieren: als Regelversessenen. „Käse mit dem Brotmesser schneiden, bringt jeden Deutschen um den Verstand“, sagt Deery.

Schadenfroh sind sie obendrein, die Deutschen! Das kann man in jedem Supermarkt beobachten, wenn eine zusätzliche Kasse geöffnet wird. Da ist die Zivilisation ganz fix beiseite geschoben, nur um schneller als der Mitwartende die Waren auf das Band legen zu können. Ethno Stand up vom feinsten. Wir wissen jetzt: Unflexibel, besserwisserisch, gemein / So können nur die Deutschen sein. Dann schließt sich der Vorhang und das Saallicht geht an. Nach zwanzig Minuten ist schon Pause!

Langsam schleicht sich Angst vor dem weiteren Verlauf der Veranstaltung ein. Davis Deery hat die Anwesenden praktisch sturmreif geschossen, sie auf all das Negative in ihrem Wesen mit der Nase gestoßen. Wird Oliver Polak in die gleiche Kerbe hauen? Doch all diese Befürchtungen sind unbegründet, denn Polak thematisiert eine biblische Geschichte.

Im 38. Kapitel der Genesis wird von einem Mann berichtet, der die Witwe seines verstorbenen Bruders heiratet. Das Gesetz verpflichtet ihn, mit der Witwe Kinder zu bekommen. Doch der Mann weigert sich, lässt seinen Samen auf die Erde fallen und wird dafür bestraft. In der Bibel heißt der Mann Onan, der bei Oliver Polak nachhaltigen Eindruck hinterlassen hat.

Ja klar, Oliver Polak will provozieren und die Grenzen des guten Geschmacks zeigen - Foto Daniel Josefsohn

Ja klar, Oliver Polak will provozieren und die Grenzen des guten Geschmacks zeigen – Foto Daniel Josefsohn

Denn das Onanieren und alle damit verbundenen Probleme sind das vordergründige Thema des Abends.

Wie ist es, wenn Polak von seiner Katze beim Wichsen beobachtet wird? Oder wenn kurz vor dem entscheidenden Moment der Erlösung sich vor dem geistigen Auge des Erregten das Bild der skeptisch dreinblickenden Mutter aufbaut? Ein Kleenex hilft in jedem Fall – und sei es gegen die feuchten Hände beim Fremdschämen.

Es ist ein Machtspiel. Polak hält die Zuschauer mit seinem Selbstbefriedigungs-
thema in Schach. Ein Ausweichen ist nicht möglich, einzig die Flucht bleibt. Daran erinnern sich nach einer guten halben Stunde die Ersten und ziehen von dannen.

„Ich wäre gern weniger egoistisch, aber was hätte ich davon?“, fragt Polak. Er hat eine hohe Gag-Dichte, auch wenn er nicht mit den Fingern an sich selbst spielt: „Ich liebe Pantomimen. Ich gebe ihnen in der Fußgängerzone immer Geld – also pantomimisch.“

Er ist politisch unkorrekt, mag gerne gegen Asiaten und Schwarze hetzen. „Mir ist egal, ob ihr denkt, ich sei rassistisch. Mir ist nur wichtig, dass ihr denkt, ich sei dünn“, sagt der bärtige Wonneproppen in Jogginghose.

Sein Lieblingsopfer trägt die gleichen Beinkleider, allerdings in rosa: Cindy aus Marzahn, der er verbal mehrfach im Intimbereich herumwühlt.

 

Polak sagt, er wäre einsam und nähme Antidepressiva ein. Diese Mittel limitierten sein Empfinden nach oben und nach unten. Er fühle nur noch im Mittelbereich, wie in Watte. Für die Depressiven schlägt er die Gründung einer eigenen Fluggesellschaft vor, der „Life’s not Easy Jet“. Deshalb die permanenten Grenzüberschreitungen, die Phantasie, mit Affen ein Geschäft zu machen. Ihre Füße können die Affen wie Hände benutzen, also könnten sie in einem Bordell vier Freier gleichzeitig befriedigen. Die armen Viecher! Jeden Tag dem Chef in Jogginghosen zu begegnen, kann kein Vergnügen sein! Die Bilder, die Polak im Kopf der Zuschauer generiert, sind eklig! Sie sprechen das jüngere Publikum an, das sich nicht mehr so leicht aus der Reserve locken lässt.

Und an die Jugend wendet sich Polak ganz direkt: „Bei euch Teenagern muss schon ein ICE durch‘s Arschloch fahren, damit sich etwas regt!“ Diese jungen Leute haben schon alles gesehen, ob im Kino oder im Internet. Ihre Gedanken pendeln nur noch zwischen Poppen und Alkopop. In Polaks Pubertätsphase ging es natürlich viel gesitteter zu. Damals, vor dem Krieg, pendelten die Jugendlichen zwischen Bravo und Berentzen Apfel. Da war die Welt noch in Ordnung, in den frühen 1990er Jahren…

Seit der Antike ist belegt, wie verdorben die aktuelle Jugend ist. Nachvollziehbar, dass Polak hier auch einmal austeilen will. Das gelingt ihm. Doch das ewige Herumgewichse wird irgendwann zu viel. Polak beweist, dass er viel mehr als ein einziges Thema pro Show stemmen kann. Er redet von den strengen Sicherheitskontrollen der israelischen Fluggesellschaft El Al, die ihn am Ende in der Schlange mit den besonders verdächtigen Fluggästen warten lassen: „Wenn ich zwei Dinge hasse, dann sind das Rassismus und diese Scheiß-Araber!“ Schlag auf Schlag rast er durch die Show: Ein Satz, ein Thema, ein Gag. Großartig.

Das rechte Maß zu finden, ist die noch nicht perfekt gelöste Aufgabe. Geklappt hat es beim Thema von Polaks jüdischer Identität. Im vorigen Programm war sie das Alleinstellungsmerkmal, bis zur Schmerzgrenze hat er sie ausgeweidet. In „Krankes Schwein“ kommt sie am Rande vor, etwa in der Frage: „Darf man das, als Jude in Deutschland Burn-Out haben?“ Oder in der Betrachtung, was Anne Frank bloggen würde, durchlitte sie heute ihre Geschichte. Es kann also klappen, das Zurückstutzen einzelner Themen auf ein erträgliches Maß. Herzlicher Applaus hat den Künstler jedoch auch schon am Ende dieser einstündigen Show umspült.

© 2014 BonMot-Berlin
Fotos: Daniel Josefsohn/ PR Oliver Polak

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Jut jerechnet, aber nicht ganz koscher – Kritik Oliver Polak: “Jud süß sauer” (5.12.2010)

Homepage Oliver Polak – Homepage Wühlmäuse

 

 

 


Tabubruch mit dem Vorschlaghammer

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DŽsirŽe Nick: Retro-MuschiPremiere im Tipi am Kanzleramt: Désirée Nick zeigt uns ihre „Retro-Muschi“

von Axel Schock

BERLIN – Für Überraschungen hat Désirée Nick im Laufe ihrer Karriere freilich immer wieder mal gesorgt. Mit zotig-schamlosen Witzen, wie man sie bis dahin nur von Drag Queens kannte, eroberte sie zunächst vor allem in der Schwulenszene ein dankbares Publikum; mit rücksichtslosem Promi-Bashing fand sie dann ein neues, auch schlagzeilenträchtiges Betätigungsfeld.

Es irritierte dann umso mehr, dass sie sich nicht nur in den intellektuellen Untiefen des „Dschungelcamps“, sondern auch in deutschen Adelskreisen bestens auskennt und dass sie über theologische Grundsatzfragen gleichermaßen fundiert streiten kann wie über den Anti-Feminismus einer Eva Hermann („Eva go home“).

Ohnehin schien die alleinerziehende Mutter als Buchautorin mehr und mehr zur Fürsprecherin ihrer Generationskolleginnen zu werden, denen sie in ihren Büchern mitfühlend und mitleidend mit satirischem Empowerment durch das Klimakterium und die übersteigerten Anforderungen an die heutige Weiblichkeit hilft.

Von ihrem jüngsten Überlebensratgeber „Neues von der Arschterrasse“ haben sich allerdings nur wenige Sätze ins neue Bühnenprogramm geschlichen, insbesondere der aufbrausende Rundumschlag gegen schwule Couturiers. Die nämlich, so Nicks Befund, haben erklärtermaßen keine Ahnung von weiblicher Anatomie – mit der Folge, dass Frauen sich nun in völlig unbequeme Fummel zwängen müssen.

Die erste Überraschung am Premierenabend gelang Nick schon mit ihrem Outfit. Vom blonden Gossen-Vamp hatte sich die Entertainerin in den zurückliegenden Jahren peu à peu zur mondänen Prada-Lady hochgearbeitet. Im Tipi am Kanzleramt präsentiert sie sich nun ihrem Publikum allerdings mit schwarzer Langhaarperücke und enganliegenden Leder-Latex-Kostüm als eine Mischung aus Cher, S/M-Domina mit einem Hauch Anna Netrebko. Die Operndiva scheint denn auch zunächst zur neuen Hauptzielscheibe des Nick‘schen Spotts zu werden. Eigentlich eine schöne wie naheliegende Idee, der erklärten Putin-Freundin in Zeiten der Ukraine-Krise und russischer anti-homosexueller Gesetze kabarettistisch den Marsch zu blasen.

Désirée Nick widmet ihr zwar ein pseudo-russisches Lied – vorgetragen wie gewohnt in schiefliegendem Soubrettenton – das Frappierende aber: Nick fallen lediglich sexistische, pseudo-russische Wortspiele ein. An einer tiefergehenden Beschäftigung mit der politischen Rolle der Diva ist sie überhaupt nicht interessiert. Die derbe Tonlage und der Brachialhumor, die Nick hier anschlägt, bestimmen denn auch den Rest der Show. Dessen Titel „Retro-Muschi“ ist also keineswegs nur ein Werbegag, sondern steht tatsächlich für diesen alles andere als kindertauglichen Abend.

Désirée Nick Retro-Muschi 02 – Foto © Jan WirdeierEs ist eine Art Humor, für den es vielleicht noch keinen Gattungsbegriff gibt. Versuchen wir es mit einer Umschreibung: Pubertierende Jungs haben ja gerne die Angewohnheit, im ersten Überschwang der Hormone und im Drang zur Regelverletzung kichernd und mit roten Ohren kleine Schweinereien in die Runde zu rufen und sich dabei wahnsinnig mutig zu fühlen. Désirée Nick gibt hier nun eine weibliche und postpubertäre (erwachsen will man das nicht nennen) Variante.

Nick will partout provozieren und mit permanenten humoristischen Tiefschlägen rund um Muschi, Mumu, Schamhaarrasur, Analbleaching und Quickies im Tiergarten das Publikum verstören. Das Problem ist nur: Auch detaillierte Beschreibungen von Oralsex mit überdimensionierten Penissen oder das Lamento über zu wenig Geschlechtsverkehr im Alter taugen nur noch bedingt zum Tabubruch. Und irgendwann erschöpft sich diese hochtourige Sexsuada, weil sie eben nur an der Oberfläche surft. Wirklich mutig wäre es gewesen, wenn Désirée Nick tatsächlich die Gelegenheit ergriffen hätte, sich ernsthaft mit sexuellen Bedürfnissen, sexueller Lebenswirklichkeit sowie falschen und vermeintlichen Tabus zu beschäftigen. Wer, wenn nicht sie, hätte dies glaubwürdig und zugleich mit Verve und Witz tun können?

Verstörend wird der Abend hingegen, wenn man manche ihrer Witze tatsächlich ernster nimmt. Sich mit ihrer schwulen Fangemeinde über Insiderwitze zu verbrüdern und zu kommunizieren, ist längst zum Standard der Nick-Shows geworden. Nun aber wird die schwule Community in einem Atemzug vereinnahmt und zugleich für derbe Pointen auch wieder der Lächerlichkeit preisgegeben, und zwar mit solch klischeebeladenen und rüden Geschichten, dass man diese eigentlich nur reaktionär und homophob bezeichnen mag.

Nach zwei Stunden Lebensansichten in grober Holzschnitttechnik liefert Nick dann mit ihrer alles andere als uneitlen Danksagungsrede noch eine letzte Überraschung. Die Show sei nur deshalb so luftig, leicht und wie dahingeplaudert geworden, sagt Nick, weil sie nun mal die schwere Kunst der Unterhaltung so gut beherrsche. Diese „Retro-Muschi“ ist wahrlich ein sehr großes Missverständnis.

© 2014 BonMoT-Berlin
Fotos: Oliver Fantitsch / Joerg Eschenburg (1), Jan Wirdeier (2, 3)
zur Verfügung gestellt vom Tipi am Kanzleramt

nächste Termine:
noch bis 1. Juni 2014 im Tipi am Kanzleramt
Vorstellungen: Mo-Sa 20 Uhr, So 19 Uhr,
Karten von 24,50 bis 34,50 Euro,
Kartentelefon: 030-390 66 550
Karten direkt online bestellen HIER

Homepage Tipi am Kanzleramt – Homepage Désirée Nick

 

 
Désirée Nick Retro-Muschi 04 – Foto © Jan Wirdeier


Ohne Fracksausen mit dem Butzemann auf Spaß-Tour – Kritik Ass-Dur

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Attachment - Foto Jan Wirdeier - PR Bar jeder VernunftAss-Dur: „3. Satz: Scherzo Spirituoso“

von Gilles Chevalier

BERLIN – „Wir haben im dritten Programm den Witz in die Aussprache gelegt“, sagt Benedikt Zeitner in seinem Frack und besteht auf der deutschen Aussprache des italienischen Wortes „scherzo“. Ein Scherz, zweifellos. Dominik Wagner am Stutzflügel trägt Kapuzenpulli und Jogginghose.

Uraufführung ihres dritten Programms war am 11. September 2014 in der Bar jeder Vernunft in Berlin. „Ein knalliges Datum“, bemerkt Zeitner, „denn an diesem Tag hat Franz Beckenbauer Geburtstag.“

Nach einer schmissig geswingten Eröffnung wird der Abend zunächst retardiert fortgesetzt. Ein wenig umständlich versuchen sie, Kontakt zum Publikum zu bekommen und bestimmen eine Zuschauersprecherin. Die Gruppe aus der Loge, die das Veranstaltungszelt erst nach Beginn der Show betreten hat, fühlt sich von ihr nicht repräsentiert. Mit lautem Geräusch fester Damenschuhe auf hölzernem Boden bewegt sich Eine aus der Gruppe auf die Theke zu. Von der Bühne angesprochen gibt sie an: „Wir haben nichts zu trinken!“ Dem geschulten Zuschauer fällt sofort Generalsekretär Michail G. aus Moskau ein. Der sprach bereits vor 25 Jahren von den schädlichen Folgen des Zuspätkommens…

Zeitner und Wagner lassen sich davon nicht aus dem Konzept bringen. Dafür sind sie als ungleiches Paar zu sehr aufeinander eingespielt. Eher bringen sie sich gegenseitig aus dem Takt. Kaum einen seiner intellektuell aufgehübschten Gedanken kann Benedikt Zeitner zu Ende bringen, ohne dass Dominik Wagner ihn unterbricht. Vorwiegend mit fragenden Witzen nach dem Motto: „Was heißt ein Geigenkasten auf Kuba? – Fidel Castro!“ Das gibt einen Niveaukontrast, der Spaß macht.

Musiktheoretische Exkurse und die weltweite Verbreitung des Kinderliedes „Es tanzt ein Bi-Ba-Butzemann“ beschäftigen die beiden Künstler. Sie können es in einer Version von Johann Sebastian Bach mit lateinischem Text oder in einer Jazz-Variante aufführen. Es gibt türkische und kubanische Fassungen des Liedes. Bei der afrikanischen geben sie dem Affen richtig Zucker: „In the jungle, the mighty jungle, the Butzemann sleeps tonight…“

Das Butzemann-Thema wird aber nicht überstrapaziert. Stattdessen zeigt Benedikt Zeitner seine Steppkünste und spielt auf der Geige ein gerade noch zu erkennendes Thema der „Kleinen Nachtmusik“. Dominik Wagner lässt sich nicht lange bitten und spielt virtuos auf dem Streichinstrument eine Sonate von Fritz Kreisler. Die wenigen Klavierakkorde steuert Dominik Wagner bei. Plötzlich fühlt man sich in einen Kammermusikabend versetzt, auch wenn die Geige ein wenig zu intensiv verstärkt wurde. Doch das hatte Vorteile, denn so wirkte der Schritt einer anderen Zuschauerin aus besagter Loge nicht ganz so störend, als sie unvermittelt zur Latrine stakste.

Im zweiten Teil von „3. Satz: Scherzo Spirituoso“ steht der weniger angemessen gekleidete Dominik Wagner etwas stärker im Vordergrund. Beide proben zwar noch gemeinsam ihre mündliche Prüfung vor dem Konservatorium und ziehen sich auch wieder auf offener Bühne um: Diesmal spielen sie dabei Mozarts Klaviersonate C-Dur, KV 545. Wenn das Stück im Fortgang etwas hängt, hängt meistens auch noch ein Ärmel. Ein herrlicher Quatsch!

Ganz still wird es dann, wenn Dominik Wagner mit Geige und Loop-Maschine Pachelbels Kanon (ohne Gigue!) aufführt. Toll, was Technik und ein guter Violinist möglich machen! Ass-Dur lebt schließlich gemeinsam sein Boygroup-Traum(a) aus. Zu einem Melodienstrauss emotionaler Boygroup-Melodien, die jeder 14-Jährigen Tränen in die Augen schießen lassen, zeigt Ass-Dur eine gut choreographierte Tanzeinlage. Ja, es ist eine „Spaß-Tour mit Ass-Dur“. Also, ich fand’s lustig!

Foto: Jan Wirdeier/ PR Bar jeder Vernunft
© 2014 BonMot-Berlin

Ass-Dur: „3. Satz: Scherzo Spirituoso“
noch bis zum 28. September 2014 täglich um 20 Uhr in Berlin, Bar jeder Vernunft,
außer montags, sonntags schon um 19 Uhr
Kartentelefon 030.883 15 82

Homepage Ass-Dur mit allen weiteren Terminen – Homepage Bar jeder Vernunft


Der Clip zum Sonntag: Martina Brandl – Ich lass mir ‘n QR Code auf’n Arsch tätowiern

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“Irgendwas mit Sex” heißt das neue Programm von Martina Brandl. Die Premiere findet am Freitag, 10. Oktober im Tollhaus in Karlsruhe statt. – Homepage Martina Brandl mit allen weiteren Terminen



Zwischen Sartre und Selbstoptimierung – Premierenkritik Florian Schroeder

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Florian Schroeder 300 - Foto © Agentur Rampensau _ Gerd WinterleFlorian Schroeder: „Entscheidet Euch!“

von Gilles Chevalier

BERLIN – Im Berliner Kabarettheater Die Wühlmäuse feiert Florian Schroeder die Premiere seines vierten Soloprogramms. „Entscheidet Euch!“ heißt es und ist eine gelungene Mischung aus Parodie, Politik und Gesellschaftsbetrachtung. Dabei hat Schroeder besonders seine eigene Generation ins Visier genommen: Die jungen Erwachsenen, die mitten im Leben stehen und nun wichtige Entscheidungen für die Zukunft treffen müssen.

Das kann der Kauf eines neuen Notebooks sein, der sich infolge der riesigen Auswahl schwierig gestaltet. Wie soll man bei 132 ähnlichen Produkten im Elektronikmarkt das Richtige finden? Oder der Kauf des richtigen Shampoos bei einem viele regalmeterlangen Angebot. Schroeders Problem dabei: Er ist „Optimierer“ und will bei jeder Entscheidung alle denkbaren Optionen beachten. Klar, dass er unter solchen Umständen recht lange für eine Entscheidung braucht.

Auch den sogenannten „Helikopter-Eltern“ schenkt er ordentlich ein. Diese Überbesorgten und alles Kontrollierenden, die zu jeder Tages- und Nachtzeit lautlos über ihren Kindern schweben, nennt er „NSA-Eltern“. Vielleicht wäre der Begriff „Drohnen-Eltern“ besser, aber wir wissen ja: Die Eltern tun all das nur zum Wohle des Kindes! Diese Elternart treibt einzig die Angst, dass ihre Kinder später nicht zu den Global Playern gehören könnten. Zwar kann es sein, dass nicht jedem Schoße ein hochbegabtes Kind entschlüpft, aber in unserem Fall…

Florian Schroeder analysiert die Entwicklung der Pärchengesellschaft. Früher waren die „Fusionspärchen“ vorherrschend, die alles gemeinsam gestalteten: Theater besuchen, Tee trinken, Tango tanzen. Heute gibt es immer mehr „Assoziierungspärchen“. Nach Schroeders Definition sind das Paare, „die zwar zusammen leben, aber auf getrennten Matratzen schlafen“, sich gegenseitig die Freiheit lassen und doch eine Einheit bilden. Schlimm ist das nicht, aber auch nicht konsequent.

Es braucht ein aufmerksames Publikum, um Schroeder in all seinen Feinheiten folgen zu können. Besonders, wenn er auf die philosophische Bahn gelangt. Genüsslich zieht er über Schopenhauers Frauenbild her, verweilt bei Kant, Sartre, Aristoteles und ihren Hauptthesen. Aber nur kurz, denn: „Sexuell gesehen waren die alten Griechen wie ein Haufen Sebastian Edathys, nur ohne WLAN.“ Da ist sie wieder, die Freiheit des Künstlers, sich über Politiker lustig zu machen.

Viele Bücher mit den Memoiren von Politikern heißen „Entscheidungen“. Aber wenn Merkels Memoiren auch „Entscheidungen“ heißen sollten, müssten Putins Memoiren mit „Ein bisschen Frieden“ überschrieben sein, sagt Schroeder. Überhaupt, die Kurzgewachsenen in vormals hohen Positionen. Da ist der Alt-Kanzler Gerhard Schröder, der jüngst seinen Geburtstag in St. Petersburg zusammen mit dem russischen Präsidenten feierte. Florian Schroeder dazu: „Stell Dir vor, Du bis Ex-Kanzler, wirst 70 und musst bis Russland fahren, um überhaupt jemanden zum Feiern zu finden!“

Das Programm „Entscheidet Euch!“ ist erfrischend zurückhaltend, was Politiker-Imitationen betrifft. Florian Schroeder übt sich mehr in der Kunst deutscher Dialekte: Da ist der norddeutsche Personalchef, der dem Kandidaten im Bewerbungsgespräch jede Aussage im Munde verdreht oder das sächselnde Pärchen, das den gemeinsamen Wandertag auf ganz unterschiedliche Weise beschreibt. Diese Stimmakrobatik lockert auf und nimmt dem philosophischen Entscheidungsseminar viel von dem ernsthaften Anliegen, einen Überblick zu geben.

Am Ende des langen Abends plädiert Schroeder entschieden für die Freiheit und weist den Staat in seine Grenzen. Das beginnt beim Einsatz der „Sprachpolizei“, um die Verwendung politisch korrekter Begriffe zu überwachen. Das endet bei den gesetzlichen Bestimmungen über das eigene Lebensende. Verbote sind für Schroeder immer ein Zeichen dafür, dass dem Verbietenden die Frage über den Kopf wächst. Dagegen wehrt er sich: „Der Staat ist mein Diener, auch wenn er sich ab und zu wie ein Schulmeister aufführt!“, ruft er entschieden aus. Zögernd reagiert das Publikum. Vielleicht, weil es von Schroeders Bestimmtheit in diesem Punkt und seinem philosophischen Parforceritt überrascht ist. An einer mangelnden Qualität des Abends kann es nicht gelegen haben.

© 2014 BonMot-Berlin
Foto: Rampensau/ Gerhard Winterle – Dankeschön!

Homepage Florian Schroeder mit allen weiteren Terminen – Homepage Wühlmäuse

Am Freitag, 3. Oktober 2014, um 23:55 Uhr ist Florian Schroeder zu Gast im Kulturmagazin aspekte im zdf.

Florian Schroeder Microbutton Rampensau_Microbutton


Da, des Pudels Kern – Kritik Butzko versus Seibel

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Seibel & Butzko - Foto © PR Thilo Seibel - Thorsten Kern - © BonMoT-Berlin _ Carlo WankaNeue politische Kabarett-Programme von HG.Butzko und Thilo Seibel

von Marianne Kolarik

KÖLN – Warum geht man eigentlich ins politische Kabarett? Diese Frage stellt HG.Butzko zu Beginn seines neuen Solos „Super Vision“ – und gibt in den folgenden eineinhalb Stunden eine plausible Antwort darauf: Hier wird dem Zuhörer klar gemacht, was Freund und Feind im Innersten zusammenhält. Ist schließlich nicht so einfach, den einen vom anderen zu unterscheiden.

Auch Thilo Seibel dröselt in seinem Programm „Das Böse ist verdammt gut drauf“ die – nur auf den ersten Blick komplizierten – Wechselwirkungen auf, mit denen sich die Guten von den Schlechten, die Heilsbringer von den Teufelchen, die Gottgesandten von den Verdammten trennen lassen.

Genau das ist das Gebot der Stunde angesichts der politischen Verwerfungen, die aus Krisengebieten im Handumdrehen Kriegsschauplätze machen. Eines steht schon mal fest – auch Christoph Sieber formuliert das in seinem „Clip zum Sonntag“ – w i r, also der Westen, sind immer die Guten. Punkt. Nur der jeweilige Gegner kann mal gut oder böse sein, ganz nach Interessenlage.

Dabei war das nicht immer so. Im Mittelalter hat man schlaue Frauen als Hexen verbrannt. Juli Zeh und Caren Miosga wären heute dran, so es die Inquisition noch gäbe, glaubt Seibel. Hat man glücklicherweise abgeschafft. Der auf einem aufblasbaren Sessel sitzende Kabarettist holt zunächst weit aus, um später umso deutlicher zur Sache zu kommen, bezeichnet Ursula von der Leyen als das „blond geföhnte Grauen“, führt „unseren Bundesgauck“ mitsamt seiner rhetorischen Ausrutscher vor und attestiert Thomas de Maizière einen blitzsauberen Gedächtnisschwund.

Soweit zu den Gestalten, an denen Humorarbeiter kaum vorbei kommen. Aber der Teufel steckt bekanntlich im Detail – und in der verzweifelten Suche nach ein bisschen Gerechtigkeit. Wie es mit dieser bestellt ist, macht Seibel mit Hilfe eines Einmachglases deutlich, in dem rund 800 Smarties – vergeblich – auf ihre Verteilung hoffen. Der Krieg zwischen Arm und Reich hat längst begonnen. Fragt sich nur, warum wir ihn tatenlos hinnehmen. Seibel weiß es: Die Medien machen’s möglich. Da würde zum Beispiel über den Investorenschutz des Freihandelsabkommen berichtet als sei das ein Naturgesetz – den Ökonomen sei Dank.

Günther Oettinger, den ehemaligen Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg und EU-Kommissar für Energie, outet er als den lustigen Harlekin des Bösen, dem bayerischen Ministerpräsident Seehofer bescheinigt er, die Windmühlen, gegen die er kämpft, selbst aufgestellt zu haben und Ronald Pofalla sei der Luftbefeuchter des Bösen – ab Januar übrigens bei der Deutschen Bahn. Beelzebub hat schließlich viele Gesichter. Er kann sich in einem Brückenhohlkasten niedergelassen haben oder in den Drohnen, die der Bundesregierung nicht unähnlich sind: „Es sitzt keiner drin, der das Ding steuern könnte“.

Ähnlich kundig wie der Kollege Butzko legt er die Schwachstellen der Bankenaufsichts-Behörden am Beispiel von Jörg Asmussen, Hans-Dampf in allen Gassen der Geldvermehrung und des Verschleuderns, bloß und fragt mit gespielter Naivität, wieso die NSA trotz all ihrer ausgeklügelten Überwachungs-Methoden keine Steuerhinterzieher findet. Am Ende lässt Thilo Seibel seine Tochter zu Wort kommen, die ihn dereinst einmal fragen wird, wieso niemand etwas gegen all die drohenden Katastrophen unternommen habe. Ein Abend, der klar macht, wieso der Mensch ins politische Kabarett gehen sollte.

©2014 BonMoT-Berlin
Foto Butzko: BonMoT-Berlin/ Carlo Wanka
Foto Seibel: PR Thilo Seibel/ Thorsten Kern

Homepage HG.Butzko – Homepage Thilo Seibel


Selfie mit Weltgeschehen – Kritik Mathias Tretter

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Mathias Tretter - Foto © Julia KobalzMathias Tretter: „Selfie“

von Harald Pfeifer

LEIPZIG – Die Gegenwart ist auf eine seltene Art verfahren. Nie ist so viel CO2 in die Welt gepustet worden wie heute, die Chinesen wollen den gleichen Lebensstandard wie wir, wo man hinsieht, gibt es Kriege, Flüchtlinge ohne Zahl, und man strebt nicht etwa nur nach Macht, es muss Weltmacht sein.

Und all das zählt der Kabarettist, von Tretter gespielt, in einem Ton auf, als wäre alles anders, wenn man ihn nur fragte. Er redet viel von Post, vor allem von Postdemokratie.

Am 9. Oktober hat er sein neues Programm „Selfie“ in Würzburg uraufgeführt, am 11. Oktober war dann Leipzigpremiere im academixer-Keller. Und die endete mit großem Applaus. Ein Programm, das kein Spektakel suchte.

Mathias Tretter gab sich beiläufig, dass man bei seinem gezeichneten Zeitbild in keinem Moment meinen konnte, es handele sich hier um Grundsätzliches. Wie zufällig kam er von einem Thema zum nächsten, mal aus dem eigenen Leben gegriffen, mal nüchtern auf die Welt gesehen.

Der Leipziger Kabarettist aus Würzburg zielt nicht auf Gemeinsinn im Publikum ab. Er verunsichert mit spöttischem Lächeln. Und „Selfie“ steht in seinem Programm auch für die Art, sich kritisch über die Schulter zu blicken. Er reflektiert aber nicht nur, welche Rolle er auf der Bühne, in den Medien oder überhaupt öffentlich spielt. Er sieht ebenso unbeirrt die verfahrene Situation auf dem Globus mit all den Glaubenskriegen, wie auch auf das Gerassel und die Spitzeleien der Ideologen. Man merkt, dass er nicht modern um jeden Preis ist. Denn in Abwandlung ist alles schon einmal da gewesen. Das illustriert er mit seiner wundervollen in SMS-Deutsch gehaltenen Faust-Parodie vor der Pause. Dichterisches Großformat wird mit modischer Einfaltsduselei konfrontiert.

Um bei seiner Weltbetrachtung die Perspektive wechseln zu können, geht er wiederholt ins Rollenspiel und auch in Dialoge über. Seine beiden Freunde Ansgar und Rico tauchen auf. Tretter zeigt, wie man die Dinge anders sehen kann. Übertreibung, Ironie und präzise Urteile folgen aufeinander. Man muss sich da aus allem schon seinen Vers selbst machen. Denn Mathias Tretter ist kein Überzeugungstäter, vielmehr zweifelt er aus Überzeugung. Nach zwei Stunden weiß man, dass er mit diesem überaus raffiniert umgehen kann. Und gesehen hat man am Abend ein Selfie mit Weltgeschehen.

©2014 BonMoT-Berlin
Foto: Julia Kobalz

Homepage Mathias Tretter mit allen Tourterminen


Geist, Genörgel und Gesang – Kritik „Die Westöstlichen Diven“

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Westöstliche Diven ZT Steglitz - Foto © BonMot-Berlin _ Carlo WankaDie Westöstlichen Diven: „einfach mal genial“

von Carlo Wanka

BERLIN – Dass viele Künstler gerne in dieser Stadt ihre Premiere spielen und es gar zu Welturaufführungen kommt, gehört zum guten Ton, ist selbstverständlich. Doch manch einer mag schmunzeln, wenn ein so wichtiges, ja kolossales Ereignis nicht gerade dem BE, dem Renaissance Theater oder dem Tipi am Kanzleramt zukommt, sondern in einem der kleinen, versteckten Orte stattfindet…

… wie dem Zimmertheater Steglitz: Dort galt es eine Weltpremiere zu feiern.

Drei Frauen, die einen Liederabend in unterschiedlichen Konstellationen vortragen. Nach Pressetext ein Abend wie viele. Denkste!

Die aus dem Emsland stammende Julia Hagemann stellt mit den Berlinerinnen Barbara Berrien und Camilla Elisabeth Bergmann eine neue Variation der Gruppe „Drei Chansonnetten” (Julia Hagemann, Barbara Berrien und Jutta Wilbertz) vor: „Die Westöstlichen Diven”.

Alle drei – ebenfalls Absolventinnen der Celler Schule von Edith Jeske – zelebrieren ihre Welturaufführung in einem der kleinsten Theater von Berlin. Da entfacht sich ein kabarettistischer Liederabend, der mit wunderbaren Highlights nur so sprüht.

Camilla Elisabeth Bergmann Barbara Berrien Julia Hagemann

Die drei Damen haben ihren Spaß und das Publikum erst recht. Von ironisch-witzigen Liedern bis zu erschauernd melancholischen Balladen ist alles vertreten. Egal, ob sie mit kleinen Requisiten die Bühne in eine beschneite Alm mit Zitterspiel und Kuhglockenklang verwandeln oder mit Schauspielerei einen Rummelplatz erzeugen, man ist nicht nur dabei, man ist mittendrin.

Durch den kleinen Rahmen, den Günter Rüdigers Zimmertheater bietet, arrangieren sich die Protagonistinnen, indem sie durch den Mittelgang auf- und abtreten. Auf diese Weise bespielen sie den gesamten Raum und lassen eine angenehme Atmosphäre entstehen.

Westöstliche Diven ZT Steglitz2 - Foto © BonMot-Berlin _ Carlo WankaJulia Hagemann bringt – passend zu den Songs – ihre Figur wie ein rühriges Fragezeichen in immer neuen Perspektiven zur Geltung. Mehr quirlig, lustig und fordernd setzt Camilla Elisabeth Bergmann ihre Darstellung in Szene. Barbara Berrien strahlt die bedachte, ruhige Facette des Trios mit schönen, konfrontierenden Liedern aus.

Alle drei verstehen es, ihr Können in den Solonummern hervorragend zur Schau zu stellen und im Duo oder Trio sich als Einheit zu präsentieren. Keine versucht der anderen die Show zu stehlen, ganz im Gegenteil, sie bestätigen und stärken sich. Die Improvisation beherrschen sie ebenso wie den Austausch mit ihren Gästen. – Drei Primadonnen mit Ensemblequalitäten.

Egal, ob Frau Hagemann abwechselnd mit Frau Bergmann am E-Klavier in die Tasten langt oder ob aus der von Herrn Rüdiger gesteuerten Konserve ein Playback erklingt, ob sie brav ein Ständchen anstimmen oder zum Popmove völlig ausrasten, das Publikum ist begeistert.

Julia Hagemann am E-Piano - Foto © BonMot-Berlin _ Carlo WankaIn den Songs, die sie alle selbst geschrieben und zum größten Teil auch selbst komponiert haben, verstehen sie es, sehr gezielt mit charmantem, zärtlichem Sarkasmus tiefe Wunden in die Oberflächlichkeit zu reißen und mit alberner Leichtigkeit Ohrfeigen zu verteilen. (Sehr gelungen auch die Arrangements von niemand anderem als Rainer Bielfeldt.) Zwischen konsequenten Altersweisheiten, geradezu pubertären Spaßeinlagen und der echten Lust am Frausein, bieten sie den Zuschauern erquickende Momente und Besinnung. Ein Trio, das ohne Zweifel dem Publikum von größeren Spielstätten wie der Bar jeder Vernunft nicht vorenthalten bleiben sollte.
Gelungen erdacht ist ihre Darbietung, mitunter absurd – Kunst!

© 2014 BonMoT-Berlin

2014-10-10 - Wö Diven Schnee - Foto © BonMot-Berlin _ ani

Fotos: BonMoT-Berlin/ Carlo Wanka

Homepage: Julia HagemannCamilla Elisabeth BergmannBarbara Berrien, Westöstliche Diven (Celler Schule)


Ensemblekabarett mit Bär – Premierenkritik Kom(m)ödchen

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Kom(m)ödchen Ensemble 2014 - Foto © Christian Rolfes - Collage Carlo WankaKom(m)ödchen: „Deutschland gucken“

von Olaf Cless

DÜSSELDORF – Das Kom(m)ödchen ist schon ein Phänomen. Seit über acht Jahren spielen sie hier das Stück „Couch – Ein Heimatabend“. Auch die Folgeproduktionen „Sushi“ und „Freaks“ sind Dauerbrenner geworden. Alle drei Programme laufen weiterhin fröhlich im Spielplan nebeneinander her. Angesichts dieses Erfolgs hätte das von Kay S. Lorentz geführte Haus nicht unbedingt etwas Neues aus der Taufe heben müssen. Hat es aber glücklicherweise doch. Am 23. Oktober schlug die Premierenstunde von „Deutschland gucken“.

Noch bevor es überhaupt so weit war, kursierte in Düsseldorf bereits die Meldung, dass die Karten für die nächsten Monate knapp würden. Die Leute wissen offenbar schon vorab, dass sich ein Besuch lohnt. Wohl weil sich herumgesprochen hat, dass das Kom(m)ödchen auch mit „Deutschland gucken“ an seiner Erfolgsmasche eines „boulevardesken Kabaretts“ bzw. „kabarettistischen Boulevards“ weiterstrickt. Dass dabei weiterhin derselbe Hauptautor am Werk ist, nämlich Dietmar Jacobs, und auch derselbe Regisseur Hans Holzbecher. Und dass last not least auch das beliebte, fabelhaft eingespielte Ensemble geblieben ist.

Letzteres stimmt aber nur zum Teil. Maike Kühl und Heiko Seidel sind in der Tat weiterhin mit von der Partie. Christian Ehring dagegen, inzwischen stark beschäftigt im Fernsehen („Extra 3“), spielt bei „Deutschland gucken“ nicht mehr mit (für die drei älteren Programme will er dem Haus aber weiter die Treue halten). An seine Stelle sind gleich zwei Kollegen neu ins Ensemble gekommen: Martin Maier-Bode sowie der bisherige Theater-Schauspieler Daniel Graf. Man spielt jetzt am Kom(m)ödchen also sogar zu viert.

Kay Lorentz erklärt dazu nicht ohne Stolz:
„In einer Zeit, in der es nur noch Solisten zu geben scheint, die allermeisten machen das aus wirtschaftlichen Gründen, da legen wir – antizyklisch – noch einen drauf. Und warum? Weil wir es können und uns zum Ensemblekabarett bekennen.“

Genug der Vorrede, gleich wird es dunkel im Saal. Auf der Bühne ein ziemlich messiehaftes Interieur, schäbiges Sofa, Billigregale, Bücher und Pizzakartons durcheinander, kleiner roter Uraltfernseher auf dem Flokati … Hier haust Lutz (Daniel Graf), der Leistungsverweigerer, hier empfängt er seit ewigen Zeiten die beiden alten Freunde zum „Deutschland gucken“, nämlich Dieter (Martin Maier-Bode), den geplagten, rastlos ackernden Industriemenschen, und Bodo (Heiko Seidel), einen reichen, aufs Abstellgleis geschobenen Erben mit allerhand Flausen im Kopf.

So unterschiedlich die drei auch ticken – und das ist gut so, um so besser prallen dann im Stück auch ihre politischen Ansichten aufeinander –, so sehr schweißt sie doch jedes Mal das urige Männerritual des Fußballguckens und -kommentierens, des patriotischen Johlens und Höhnens („Orange trägt bei uns nur die Müllabfuhr!“ singen sie gegen Holland) bei Flaschenbier und Frikadellen von der Tankstelle zusammen.

Um so tiefer der Stimmungseinbruch, als im Schlepptau von Bodo plötzlich eine Frau erscheint, Solveig (Maike Kühl), die auch noch hier und jetzt eine Arte-Filmdoku über fußballguckende Deutsche drehen will. Nachdem Lutz dann doch nicht zur Kettensäge gegriffen hat, um seinem Frust Luft zu machen, nachdem die Freunde sogar ihre lähmende Angst vor der Kamera überwunden haben, kommt der Abend doch noch in Gang – und mit ihm allerhand Debatten um deutschen Nationalismus, um Flüchtlingspolitik, AfD, Autobahn-Maut oder auch den „Nahen Osten“ gleich hinter Wuppertal, wo bekanntlich schon eine „Scharia-Polizei“ gesichtet wurde.

Wie bereits in Dietmar Jacobs früheren Kabarett-Komödien nimmt das Geschehen auch hier ständig neue überraschende und aberwitzige Wendungen. Bodo plant, Solveig einen hochromantischen Heiratsantrag zu machen und hat im Hinterhof heimlich eine „bulgarische Hochzeitsband“ postiert, die mehrfach verfrüht loslegt und zum Schweigen gebracht werden muss. Businessmann Dieter wiederum plagt sich mit Anrufen seines Chefs herum, der ihn dringend zu Geschäftsverhandlungen in London erwartet.

Es kommt zu schreiend komischen Sondereinlagen wie einem „Integrations“-Kasperletheater oder einer kostümintensiven, cannabisgeschwängerten Zeitreise in die Hippiejahre. Ein ausgewachsener Bär hat einen denkwürdigen Auftritt, bei dem er sogar Heine rezitiert, eine deutsche Samba wird gesungen („Wir sind die wahren Brasilianer / mit deutscher Gründlichkeit“) und in der bekannten Show „Wer bleibt Millionär?“ behauptet sich ein strunzdummer Kandidat unangefochten als Sieger – er hat ja auch nur die Wahl zu treffen zwischen den Antworten Ja, Ja, Ja und Ja.

Als die Geschichte immer turbulenter wird, die Rollenwechsel noch dichter folgen, fragt einmal einer den anderen: „Warum ziehst du dich dauernd um?“ Und der antwortet gehetzt: „Na, ich hab das nicht geschrieben!“ Schöner selbstironischer Seitenhieb der Stückemacher auf ihre eigenen Umtriebe.

Es liegt in der Natur dieser Art von spielfreudigem kabarettistischem Boulevard, dass die politischen Themen meist nur kurz angetippt werden können. Ein paar gut sitzende Pointen, das muss reichen. Mehr Analyse, mehr Argumentation, mehr Zusammenhänge lassen sich den Figuren des Stücks schwerlich in den Mund legen, ohne dass das Ganze komödiantisch zu lahmen beginnen würde. Erst recht, da es nicht mehr wie noch in „Couch“ & Co. die – von Ehring verkörperte – Figur des geplagten Kabarettisten gibt, der ein Stück weit tun kann, was ein Kabarettist eben tut, nämlich politisch-satirisch in die Vollen zu gehen.

So waren denn die Düsseldorfer Premierengäste, einschließlich bekannter Repräsentanten verschiedener Parteicouleur, hoch zufrieden mit diesem witzig-irrwitzigen, lautstark bejubelten Abend. „Kann man wieder bedenkenlos weiterempfehlen!“, schwärmte am Ausgang eine Besucherin zur anderen.
Im Taxi dann die 23 Uhr-Nachrichten. Sechs Karstadt-Filialen sollen schließen. Hoppla, schon ist er zurück, der Ernst des Lebens.

© 2014 BonMoT-Berlin
Fotos: Christian Rolfes/ PR Kom(m)ödchen

 

Homepage Kom(m)ödchen mit Spielplan

Kom(m)ödchen Ensemble 2014_3 - Foto © Christian Rolfes

Martin Maier-Bode, Daniel Graf, Maike Kühl und Heiko Seideldas neue Kom(m)ödchen-Ensemble 2014 (v.l.n.r.)


Ko(s)mische Zeitreise mit Sia Korthaus – Premierenkritik

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Sia Korthaus - Foto Simin Kianmehr„Sorgen? Mache ich mir morgen!“
beim 24. Köln Comedy Festival

von Marianne Kolarik

KÖLN – Das Alter sieht man ihr nicht an: Die junge Frau auf der Bühne des Senftöpfchen-Theaters in dem grau glänzenden Strampler behauptet, 86 Lenze zu zählen. Mmmh! Das kann doch nicht wahr sein. Ist es aber.

Denn wir befinden uns im Jahr 2054, man trägt tellergroße Live-Chips, aus dem Dollar sind Drachmen geworden und Alkohol ist verboten. Bereits seit 2035. Damals hieß die Bundeskanzlerin Ursula von der Leyen. Soweit zum Einstand in die Zukunft:

„Sorgen? Mache ich mir morgen!“ heißt das Programm, mit dem Sia Korthaus das Publikum – zu Recht – begeistert. Und es beweist einmal mehr, dass es sich lohnt, gute Leute um sich zu scharen.

Mit Thilo Seibel als Autor und Thomas Köller als Regisseur hat die Kabarettistin ins Schwarze getroffen: zwei kluge Köpfe, die die spielerischen Talente der Kabarettistin zum Vorschein bringen. Allein die Idee, einen außerirdischen Zeit-Taxifahrer in Form einer Handpuppe auf die Bühne zu holen, auf der eine silberne Raumfahrt-Station installiert ist, gehört zu den gelungenen Kunstgriffen, mit denen die Handlung voran- und zurück getrieben werden kann. Der – man hört es – aus Berlin kommende Typ bringt es nicht nur fertig, mühelos von einem Jahrzehnt ins nächste zu düsen, er hat auch die Schnauze auf dem rechten Fleck.

Da erfährt man, dass Google 2019 die Europäische Zentralbank aufgekauft hat, Europa extrem arm wurde, die Anzahl der Bevölkerung dramatisch gesunken ist und aus Amerika die United States of Amazon geworden sind. Deutschland steht auf dem zweiten Platz im Lichtreisestrahl, SPD-Wähler leben in Reservaten, nur noch im Ruhrgebiet gibt es traditionellen Geschlechtsverkehr und Autos werden mittels Flatulenzen betrieben. Der kecke Taxifahrer bringt seine Chefin zwischendrin zurück ins Jahr 2014, also in eine Zeit, in der die ersten Google-Brillen entstanden (sie werden sich nicht durchsetzen) und noch vieles erlaubt war, was Spaß machte.

Mit darstellerischer Verve switcht Korthaus durchs Universum von gestern, heute und übermorgen, deckt Konstanten auf („Helmut Schmidt lebt noch“, „was sich nie ändern wird: schnarchende Männer“), macht moderne Fahrzeuge für den Geburtenrückgang verantwortlich und erklärt, was es anno dazumal mit einem Verlobten auf sich hatte („das ist, wie wenn man ein Fahrrad geschenkt bekommt und nicht damit fahren darf – nur klingeln“). Ein Abend, in dessen Verlauf die Gehirne der Zuschauer eine beträchtliche Auswölbung erfahren und die Endorphin-Ausschüttung Höchstwerte erreicht.

© 2014 BonMoT-Berlin
Foto: Simin Kianmehr

Homepage Sia Korthaus mit allen weiteren Terminen

Homepage Köln Comedy-Festival mit allen Terminen und weiteren Informationen


„Russendiss & Co.“ – Kritik Schülerkabarettensemble

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Ei-n-fälle Cottbus - Foto Beate Moeller ©2015 BonMoT-Berlin 01Schülerkabarettensemble der Deutschen Schülerakademie 2014:

von Gilles Chevalier

Cottbus – Tilman Lucke nennt es schlicht „Nerd Camp“. Da treffen sich in den Sommerferien 15 Schülerinnen und Schüler aus ganz Deutschland, um mehr über Kabarett und Satire zu erfahren. Die jungen Leute lassen sich von den Jung-Kabarettisten Martin Valenske und Tilman Lucke in Theorie und Geschichte des Kabaretts einführen. Gemeinsam schreiben sie an Nummern und inszenieren ein ganzes Programm.

Das Ergebnis zeigen sie nun schon zum zweiten Mal bei den Ei(n)fällen, dem Kabaretttreffen der Studiosi in Cottbus. Die Ei(n)fälle gibt es seit 1996 – zu diesem Zeitpunkt war noch keiner der Oberstufenschüler geboren. Das spielt aber keine Rolle. Mit ihrem Programm „Russendiss & Co.“, einer aktuellen Übersicht des Zeitgeschehens, begeistern sie die Kolleginnen und Kollegen der älteren Semester.

Solistische Textvorträge sind ebenso vertreten wie Sketche mit mehreren Darstellern und musikalische Einlagen. Angenehm auch, dass keine Nummer zu lang geraten ist. Und, dass ungewöhnliche Ideen realisiert wurden. Zum Beispiel, wenn sich je ein Vertreter Russlands und der USA in einer Art Battle-Rap gegenseitig schlecht machen: Die Einen sind Sexisten und betreiben ganz offen Wahlfälschung, während die Anderen sich gegen das Nachbarland im Süden extrem abschotten und mit ihren Drohnen Menschen töten. Fazit: Beide haben Dreck am Stecken und können dem Gegenüber nicht wirklich mit einer sauberen Weste entgegentreten.

Ei-n-fälle Cottbus - Foto Beate Moeller ©2015 BonMoT-Berlin 006aOder wenn sich die „Demokratische Separatisten Allianz“ trifft. Da sitzen Vertreter der Volksrepublik Donezk, Bayerns, Schottlands und Kurdistans an einem Tisch und wollen voneinander lernen, wie das am besten klappt mit dem Separieren. Die Vertreterin Schottlands lauscht dann in ihrem Schottenrock dem bayerischen Gesandten, der die „Horstitutionelle Monarchie“ erklärt.

Oder das Solo, in dem der Forderung unseres „präsidialen Pastors“ nach dem Übernehmen von mehr Verantwortung ins Gericht gegangen wird. Das passiert ganz sachlich und mit Fakten. Emotionen sind auch gar nicht nötig, wenn man sich die deutsche Beteiligung an diversen Einsätzen im Ausland ansieht. Zum Teil ist nur ein knappes Dutzend deutscher Soldaten daran beteiligt – und das arbeitet tausende Kilometer vom Krisengebiet entfernt! Spannend, dieses in vielen Kabarettprogrammen behandelte Thema einmal aus einer anderen Perspektive serviert zu bekommen!

Vor Religionsbetrachtungen machen die Schüler auch keinen Halt. Da ist das Solo, das eine Papst-Äußerung aufs Korn nimmt. Benedikt sagte etwa, wenn jemand meine Mutter beleidigt, ist es doch ganz klar, dass ich ihm eins auf die Glocke gebe! Conclusio des Solisten: „Hauptschulschläger sind keine Idioten – die sind alle erzkatholisch!“ Auch die Schwierigkeiten bei einer Wiedergeburt im buddhistischen Glauben werden von den Schülern ausgiebig thematisiert.

Bitterböse dagegen die christliche Trauerrede auf Lampedusa. Da wird der ertrunkenen Flüchtlinge gedacht, die posthum die italienische Staatsbürgerschaft erhalten. So können sie jetzt in der gesamten Europäischen Union leben, arbeiten und studieren. Nutzen können sie das nicht mehr, denn wir sind ja bereits bei ihrer Trauerfeier und die Seebestattung hat längst stattgefunden.

Ei-n-fälle Cottbus - Foto Beate Moeller ©2015 BonMoT-Berlin 019Auch die Nummer um den Pharmareferenten Gockel ist nicht von schlechten Eltern. Im Gespräch mit einer Ärztin erklärt er sein Credo: „Bloß weil die meisten Menschen gesund sind, heißt das noch lange nicht, dass wir sie nicht behandeln können!“ Schließlich lässt sich jede Nebenwirkung durch ein neues Medikament in Schach halten. „Die besten Medikamente sin die mit Nebenwirkung.“ Auch hier spürt man, wie dicht die Texte an der Wirklichkeit sind. Dreifache Verfremdung Fehlanzeige – die Realität wird einfach gespiegelt und ein wenig konzentriert. Das ist das Geheimnis.

Am stärksten sind die Oberstufenschüler, wenn sie Themen aus ihrer Lebenswirklichkeit entnehmen. Mit der „Schule des glücklichen Volkes“ in Nord-Korea gibt es einen Schüleraustausch – diätetische Ernährung inbegriffen. Und die Vision des iHome, eines elektronisch regulierten Hauses, ist auch keine Option. „Gebrannte Musik kommt mir nicht ins Haus“, erklärt die elektronische Stimme, nachdem sie den Zeitpunkt der Bettruhe bestimmt hat. Sie ist nicht besser als die Eltern aus alten Tagen mit ihren strikten Regeln! Wobei Eltern noch den Vorteil haben, wesentlich seltener abzustürzen und nicht Error 404 melden.

Ohne Eltern fand bestimmt die Party in der Geschäftsstelle der Jungen Union statt. „Sexy and JU know it!“ Dort wachen zwei Übriggebliebene mit ordentlichem Filmriss auf. Erinnern können sie sich an nichts, aber das eine Papier und das andere Handy-Foto lassen auf eine ungehemmte Feier schließen. Macht nichts! Auf geht’s zur AfD-Party mit dem Motto: „Saufen bis wir griechen! – Eintritt eine Mark (sic!).“

Das Schülerkabarettensemble 2014 war nah an der Wirklichkeit und hat sich nicht den Schneid abkaufen lassen. Die Texte voller kleiner Boshaftigkeiten, die nur bei genauem Hinhören ihre volle Schärfe entfalten. Ein schöner Jahrgang, den man gern in einem der vielen studentischen Kabaretts bei den Ei(n)fällen in Cottbus wieder begrüßen möchte.

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Fotos: Beate Moeller
© 2015 BonMot-Berlin Ltd.



Erinnerung an 20 Jahre in zwei Stunden – Premierenkritik Schwarze Grütze

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SAMSUNGSchwarze Grütze: Das Besteste

von Harald Pfeifer

LEIPZIG – 20 Jahre sind für ein Duo eine Ewigkeit. In so einer Zeit haben sich die meisten Zweiergruppen schon mehrmals verzankt und wieder vertragen. Von außen gesehen, haben Stefan Klucke und Dirk Pursche die Jahre andauernder Nähe schadlos überstanden.

Und gemeinsam ist die Schwarze Grütze zum Markenzeichen für Heiterkeit, Übermut im Zeitgeist und künstlerischer Disziplin geworden. Anders wäre der gemeinsame Erfolg auch nicht denkbar gewesen. Denn was sie da auf der Bühne vollführen, ist Teamarbeit.

Die beharrliche Arbeit am Detail ist nicht zu übersehen. Da haben sich Zwei bei den Wort- und Tonschöpfungen zu Höchstleistungen angetrieben. Und das mit diebischer Freude an heimtückischen Pointen, am Witz mit Zeitzünder und überhaupt an all den Geschichten, die in sorgfältig ausgetüftelten Katastrophen enden. Auf schwarzen Humor lässt sich die Schwarze Grütze jedoch nicht reduzieren. Das wäre nur das Pfeifen im dunklen Wald. In den Geschichten und Liedern kommt der ganz gewöhnliche Alltag vor, in feiner Übertreibung zu Kunstwirklichkeit gemacht. Und darum wirken Blut, Tod und Teufel überaus heiter.

All das konnte man zur Premiere des Jubiläumsprogramms „Das Beste“ am 5. Februar im Keller der academixer in Leipzig erleben. Ausverkauft war der Abend natürlich, weil die Schwarze Grütze in der Messestadt immer Heimspiel hat. Das Jubiläumsprogramm ist raffiniert gebaut. Solche Feierstunden haben viele Stolperleinen. Doch Stefan Klucke und Dirk Pursche zeigen Format und Fantasie. Sie greifen tief in ihr Repertoire, als läge das auf einem Wühltisch, singen Lieder, wie das Hochhauslied in ganzer Länge, andere verknappen sie und fassen sie mit weiteren zu einem Potpourri zusammen, sie necken sich ohne Ende und erinnern an wichtige Momente ihrer Programme. Das scheint alles so ganz aus dem Moment heraus zu geschehen, aber bald merkt man, da gibt es einen klugen dramaturgischen Plan, der für einen geschmeidigen Ablauf sorgt. Hier ist alles möglich, nur keine chronologische Ordnung.

Natürlich gibt es wahre Kabinettstückchen, so werfen sie sich beispielsweise gegenseitig ihre Unarten mit präzise den gleichen Worten vor und sprechen das in aller Heftigkeit simultan. Freilich gibt es das auch bei Ursus und Nadeschkin, aber gut gemacht wirkt so etwas immer wieder überzeugend. Dann durften die Froschwitze nicht fehlen, ebenso nicht das Lied „GEMA-Spion“, „Namenslied“ oder „Einer geht noch“, alle Wortspiele und Zungenbrecher waren dabei, und die Zeit verging im Flug.

Am Ende großer Jubel, 20 Jahre sind geschafft, und sie hätten es nicht zu singen brauchen: Die Schwarze Grütze ist in der Tat “Keine Band für eine Nacht”.

Schwarze Grütze - Foto © 2012 Bonmot-Berlin Ltd

© 2015 BonMoT-Berlin
Fotos: © 2015 BonMoT-Berlin/ Carlo Wanka

Homepage Schwarze Grütze mit allen TourterminenWorld of Friends – CDs direkt bei EinLächeln – Schwarze Grütze auf YouTube


Swingende Jonglagen voller Leichtigkeit – Premierenkritik Robert Wicke

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M_300_RobertWicke_C_Toofan HashemiRobert Wicke: „Rob’s Balls and Beatz – Comedy meets Juggling meets Beatbox“

von Gilles Chevalier

BERLIN – In der Berliner ufaFabrik hat der Jongleur und Beatboxer Robert Wicke mit seinem Programm „Rob‘s Balls and Beatz – Comedy meets Juggling meets Beatbox“ Premiere gefeiert. Er beweist, dass man um ein großartiges Programm keine großen Worte machen muss.

Es wird viel zu viel geredet. Das ist der Leitgedanke von Robert Wicke, der kein Wort zu viel verliert. Stattdessen stürzt er sich auf alles, was Geräusche macht. Dazu braucht es nichts Exotisches, eine Flasche Limonade oder ein Päckchen Tortilla-Chips reichen schon aus. Und dabei machen nicht nur die Chipstüten Geräusche, sondern auch die Chips selbst, wenn er sie auf unterschiedliche Weise kaut.

Wicke schaltet seine Loop-Machine ein und macht mit seinen Supermarkt-Einkäufen Musik. Immer überraschend und immer wieder neu. Stets ist er auf der Suche nach neuen Geräuschwelten. Da bietet bereits ein Handmikrofon eine völlig neue Sicht auf die Dinge. Sein Universum baut er langsam auf, Stück für Stück. Lange hält er die drei Bälle fest, bevor er sich zu gewaltigem Bigband-Swing für eine getanzte Jonglage entscheidet.

Aus dieser Vorbereitung entsteht eine faszinierende Spannung. Robert Wicke erzählt in seinem sehenswerten Programm keine Geschichte, sondern reiht Ideen aneinander. Jonglagen und musikalische Elemente wechseln einander ab. Er versteht es, einzelne Zuschauer ausgesprochen charmant in seine Show einzubinden. Und er hat ein herrliches Stück Latrinenlyrik eingesprochen, um in die Pause zu geleiten.

Ansonsten kommt Wicke praktisch ohne Worte aus: Geräusche macht er mit Mund und Kehlkopf. Das klingt dann nach Maschinenmenschen oder schlicht nach Beats. Dabei kann er sogar die direkte Verbindung von asiatischen Gebetsgesängen zu modernen Sounds nachweisen.

Wicke weiß, wie er sein Stofftier für eine kleine Zauberei entspannen kann – und man ist froh, dass es nur ein Stofftier ist! Immer sitzt ihm der Schalk im Nacken, der in so mancher Nummer die Oberhand gewinnt. Am Ende dieser kurzen und kurzweiligen Show entzündet er auf der dunklen Bühne ein wahres Feuerwerk, indem er mit Bällen jongliert, die nach Belieben in unterschiedlichen Farben leuchten. Ein toller Effekt, der diesen sehr empfehlenswerten Abend krönt!

© 2015 BonMot-Berlin
Foto: Toofan Hashemi

Robert Wicke spielt „Rob’s Balls and Beatz – Comedy meets Juggling meets Beatbox“ noch bis zum 14. März 2015 immer mittwochs bis sonnabends um 20 Uhr im Varieté Salon der ufaFabrik, Viktoriastr. 10-18 in Berlin-Tempelhof.

Kartentelefon: 030.75 50 30, Email: vorbestellung(ät)ufafabrik.de

Links: ufaFabrikVorverkaufWorld of FriendsRobert Wicke


Ein Abend wie Vanille-Knoblauch-Eis – Premierenkritik Till Reiners

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Till Reiners im Mehringhoftheater – Foto Carlo Wanka © BonMoT-Berlin Ltd.Till Reiners: „Auktion Mensch“

von Gilles Chevalier

BERLIN – Im gut besuchten Berliner Mehringhoftheater hat Till Reiners die Premiere seines Programms „Auktion Mensch“ gefeiert. Die beiden Programmhälften trennt eine Pause – die Qualität der beiden Hälften ein riesiger Graben.

Till Reiners wirkt in seinem zweiten Programm gefälliger als im ersten. Die dunkelblonden Haare sind etwas kürzer und immer noch sauber gescheitelt. Und dann dieses Lächeln! Stundenlang muss er geübt haben, um diese Mischung hinzubekommen: Etwas aus Dr. Best, Werbung für die Zahnpflegeinnung und einem Trailer aus „Schwiegermutter gesucht“. Damit lässt sich jeder nicht gezündete Gag überbrücken. Und davon gibt es im ersten Teil einige.

Reiners sagt zwar am Anfang: „Ich habe mir Gedanken gemacht über den Kapitalismus“, doch die Ergebnisse dieses Denkprozesses tröpfeln nur sehr zaghaft in den Saal. Stattdessen sucht er lang und breit, das beste Kabarettprogramm überhaupt zu gestalten. Um herauszufinden, welche Themen und Gags zünden, hat er Papier in ein Klemmbrett gespannt und macht sich Notizen.

Lange dauert diese Erforschungsphase. Nebenbei plaudert er über seine Erlebnisse als dickes Kind im Sportunterricht, widerlegt die These, dass Wachstum Arbeitsplätze schaffe und weist auf die Vorteile der Vorurteile hin: „Wir brauchen Vorurteile, um uns besser zu fühlen.“ Besser als die Anderen, die in vielleicht anregenderen Kabarettprogrammen sitzen.

Fast eine Dreiviertelstunde lang geht es ausgesprochen beliebig zu. Für Stand-Up klebt Reiners zu sehr am Text und für Kabarett ist er in der ersten Hälfte zu selten gehaltvoll. Je näher jedoch die Pause rückt, desto mehr kommt Reiners wieder zurück in Haltung seines ersten Programms „Da bleibt uns nur die Wut“. Damals hatte er sich in Rage geredet und durch heftige Überlegung so manches entlarvt.

Und tatsächlich ist Reiners nach der Pause wie ausgewechselt. Das anbiedernde Lächeln ist ihm vergangen, ganz und gar konzentriert er sich jetzt auf die Sache. Die Suche nach dem perfekten Programm tritt schnell in den Hintergrund, Reiners denkt jetzt über den Menschen nach: „Die gleiche Spezies, die die Relativitätstheorie erdacht hat, hat auch Handyschmuck entwickelt.“ Oder die Sache mit dem Erwachsenwerden. Das ist für ihn: „Freundschaft mit der eigenen Dummheit schließen.“

Zur Höchstform läuft Till Reiners auf, wenn er das Scheinargument auseinandernimmt, mit der Vorratsdatenspeicherung hätten die NSU-Morde verhindert werden können. Oder wenn er sich Pegidas Wahrheitsanspruch entgegenstellt: „Der Staat will dir deine Meinung verbieten? Nein, dein Verstand will dir deine Meinung verbieten!“

Herrlich auch, wie er sich mit dem „Wahlprogramm in einfacher Sprache“ einer großen christlich-demokratischen Partei auseinandersetzt. Aus 80 Seiten Wahlprogramm werden auf einmal 20 – einfach nur, weil die rhetorischen Füllsel fehlen. „Oh nein, mein Moralinspiegel sinkt. Auf unter zwei Gauck!“, lässt er einen Umweltaktivisten noch ausrufen, bevor er als Pseudo-Bessermacher den Spiegel vorgehalten bekommt. „Mein Programm ist mein Gedanken-Best-of“, sagt Reiners, „Wie dumm ich dazwischen bin, könnt ihr nicht mal erahnen!“

Was nach der Pause im Berliner Mehringhoftheater stattfindet, ist politisches Kabarett der Spitzenklasse. Schlag auf Schlag greift Reiners die Themen auf. Hier steht ein junger, unverbrauchter Künstler auf der Bühne, der für die aktuellen politischen Themen seine eigene Herangehensweise gefunden hat. Unverständlich bleibt, warum sich der erste Teil des Programms in Form und Gestaltung so sehr vom zweiten Teil abhebt. Beide Teile zusammen sind wie Vanille-Knoblauch-Eis – eine extraordinäre Kombination für ausgewiesene Feinschmecker.

©2015 BonMot-Berlin Ltd.
Fotos: Carlo Wanka/ BonMoT-Berlin

Links: MehringhoftheaterWorld of FriendsTill Reiners

Till Reiners im Mehringhoftheater 04 – Foto Carlo Wanka © BonMoT-Berlin Ltd. Till Reiners im Mehringhoftheater 03 – Foto Carlo Wanka © BonMoT-Berlin Ltd. Till Reiners im Mehringhoftheater 02 – Foto Carlo Wanka © BonMoT-Berlin Ltd.

Neuestes Berliner Chanson – Uraufführungskritik Matthias Binner

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Matthias Binner - Foto PRMatthias Binner: „Vorbeischneiten Freiheiten“

von Gilles Chevalier

BERLIN (gc) – Schüchtern und ein wenig ängstlich blickt Matthias Binner auf der Postkarte seines ersten Solo-Programms „Vorbeischneiten Freiheiten“. Als ob von rechts oben gleich ein Unheil auf ihn zukäme.

Das kommt jedoch bestimmt nicht von den Besuchern der Uraufführung, denn Matthias Binner wurde im ausverkauften zebrano-theater in Berlin-Friedrichshain gefeiert. Seine hintergründigen Texte und seine abwechslungsreichen Kompositionen fanden großen Anklang.

Anfang vierzig ist er – und Berliner. Genauer gesagt, ist er im Spandauer Ortsteil Staaken aufgewachsen. Der liegt so weit im Berliner Westen, dass zentral siedelnde Hauptstädter ihm das Berlinersein schon wieder absprechen könnten. Klavier, Gitarre, Melodica und Glockenspiel nutzt er in seinem Programm. Die Melodica kann er, dank eines verlängerten Mundstücks, sogar gleichzeitig mit dem Klavier spielen.

Matthias Binner war schon oft als musikalischer Leiter verschiedener Bühnenproduktionen tätig. Vor allem in Berlin, in der Bar jeder Vernunft oder im Kleinen Theater, zum Beispiel. Maren Kroymann lässt sich in ihren Programmen gern von ihm am Klavier begleiten. Jetzt aber will es Binner wissen und gestaltet, zusammen mit dem Regisseur Patrick Stauf, einen Abend für und mit sich selbst.

Das Philosophische dabei nimmt einen großen Teil in Anspruch. Das titelgebende Lied „Vorbeischneiten Freiheiten“ beschäftigt sich mit den Risiken, die von der Freiheit ausgehen. Bei Adam und Eva war dieses Risiko die Vertreibung, beim ertaubten Beethoven bestand es darin, mit künftigen Kompositionen nicht mehr reüssieren zu können. Beethoven ging das Risiko ein und erschuf Meisterwerke. Auch wir sollten heute also durchaus mal ein Risiko eingehen.

„Zweiunddreißig Gründe (noch nicht aufzugeben)“ ist ein schwungvolles Chanson, in dem Binner eben 32 Gründe nennt, weiterzumachen: „Ham‘ wir schon genug Zuneigung geneigt? // Ham‘ wir schon genug Moral und Bein gezeigt? // Genügend Harmoniewechsel vergeigt? // Ham‘ wa? Ham‘ wa nicht.“ Und dann, am Schluss, ein Hoch auf das Leben: „Es gibt immer einen Grund, nicht aufzugeben // Und niemals einen, nicht weiterzuleben.“

Ein wenig Biographisches streut Binner auch in sein Programm. „Tatsächlich geschehen“ erzählt von seinem Aufwachsen in der ummauerten Stadt. Ganz natürlich, diese Mauer, wenn man Berlin nur mit ihr kennt. Als diese Mauer dann fiel, war Binner Oberschüler und er beschreibt sehr eindringlich, dass er sich der Bedeutung dieses Ereignisses nicht bewusst war. Aber es gibt ein Foto, das ihn vor dem Brandenburger Tor stehend zeigt: „Ich traue der Kamera // dass die Mauer mal stand, // dass die Mauer verschwand // und ich dabei war, als es geschah.“

Nun könnte es merkwürdig klingen, wenn ein 42-Jähriger aus seinem Leben so erzählt, wie Opa früher vom Krieg. Es klingt aber nicht merkwürdig, denn es ist ehrlich. Auch die mittlere Generation hat weltgeschichtliche Ereignisse erlebt, nur ist sie es noch nicht gewohnt, darüber zu erzählen. Historisches thematisieren auch „Die Ruinen Germanias“. Fröhliche Kinder besteigen zum Rodeln den verschneiten Teufelsberg in Berlin. Aber diese Erhebung ist künstlich, sie besteht aus den Trümmern im Zweiten Weltkrieg zerstörter Häuser. Geschichtliches findet sich eben überall, auch wenn es manchmal verdeckt ist.

Seine musikalische Vielfältigkeit beweist Matthias Binner in einem anderen Programmteil. „Dienstag trifft sich die Mischpoke zum Seniorenkaraoke“, trällert er mit Halb-Playback im Stil eines Schlagers. Die Heimbewohner singen dann Songs der Stones und der Ramones und sind trotz des hohen Alters noch genauso für Herzensdinge empfänglich, wie früher. Das große Musical streift er in einem Lied über zwei Musicaldarsteller, die sich wegen der „Clipmicrophone“ nicht zu nah kommen dürfen – sonst kann es Störungen geben. Einen Reggae spielt Binner auf der Gitarre und auch die Gattung Dramatisches Chanson kommt mit „Lass mich nicht allein“ zur Geltung.

Dieses sehr an Jacques Brels „Ne me quitte pas“ erinnernde Stück ist einfach nur traurig-schön. Denn die Liebe als Thema fehlt an diesem Abend natürlich nicht. Binner stellt einen Zyklus von fünf Chansons zusammen, die das Werden und Vergehen einer Liebe erzählen. Vom schüchternen ersten Blick bis zur endgültigen Trennung. „Was wir war, wird wieder zu ich und zu du“ wirkt durch den monotonen Flüstergesang und die sparsame Instrumentierung bedrohlich. Wie ein Mantra wiederholt der Sänger den Refrain, um die Trennung zu begreifen.

Matthias Binner hat in „Vorbeischneiten Freiheiten“ musikalisch und textlich sehr viel zu bieten. Die griffige Gliederung und die kurzen und prägnanten Moderationen fesseln das Publikum auch zwischen den Chansons. Übrigens gibt es das Programm auch schon als Studio-CD – inklusive der Zugaben. Nicht nur auf der Bühne ein Könner, dieser Matthias Binner.

©2015 BonMot-Berlin

Für die nächste Zeit ist nur eine weitere Vorstellung von „Vorbeischneiten Freiheiten“ geplant: Matthias Binner spielt am Sonnabend, den 4. Juli 2015, im „Sally Bowles“, Eisenacher Str. 2 in Berlin-Schöneberg. Beginn ist um 20 Uhr.

Links: Zebrano-TheaterWorld of Friends


Ladies Night im Baumarkt mit den „Hammerfrauen“

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BAUHAUS_Motiv_01.inddMusical-Uraufführung in den Wühlmäusen
von Beate Moeller

BERLIN – Den Sommer über wird am Theodor-Heuss-Platz mit Frauen-Power kräftig renoviert. Täglich ab 20 Uhr knallt und hämmert es auf der Bühne:

Bei der Ladies-Night im Baumarkt – dem Handwerkerkurs nur für Frauen – lernen vier Damen zwischen Sekt und Schnittchen, wie man fliest und fugt. Doch nicht nur das Fliesenlegen, auch den Baumarkt selbst nimmt das Do-it-yourself-Quartett über Nacht in die Hand.

Den Alltag auf die Bühne genagelt haben der Berliner Autor Robert Löhr („Der Schachautomat“), der Pianist und Komponist Benedikt Eichhorn („Pigor & Eichhorn“, „Bezirkslieder“ mit Horst Evers) sowie der Kabarettist und Autor Michael Frowin (u.a. Friedrichstadtpalast, Komische Oper, Distel).

Als Hammerfrauen legen Caroline Beil (Cornelia), Isabel Varell (Yvonne), Julia Klotz (Kim) und Julia Meier (Julia) Hand an. Unterstützt werden sie von den Baumarktmitarbeitern Marco Billep (Patrick) und Michael Frowin (Enno). Mit Christian Miebach (Mark) als Julias Bräutigam ist das Septett komplett.

©2015BonMoT-Berlin
Foto: Claudius Pflug

Hammerfrauen – Das Musical:
Buch: Robert Löhr | Musik: Benedikt Eichhorn | Songtexte: Michael Frowin & Benedikt Eichhorn | Regie: Craig Simmons | Bühne & Kostüme: Esther Bätschmann | Choreographie: Betty Dir | Produktion: Theaterplatz & Halliwood

Uraufführung am Donnerstag, 16. Juli 2015
Die Wühlmäuse | Pommernallee 2-4 | 14052 Berlin | Kartentelefon 030.30 67 30 11 | Kartenbestellung weitere Möglichkeiten
Termine: 16. Juli bis 23. August 2015, Di-So um 20 Uhr

Auf Heimwerkerkurs hammern und picheln: Julia Meier, Isabel Varell, Caroline Beil und Julia Klotz.

Auf Heimwerkerkurs: Julia Meier, Isabel Varell, Caroline Beil und Julia Klotz.


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