Intelligente Balance zwischen Tief- und Blödsinn
BERLIN (as) – Schauspielschulen dienen offenkundig nicht nur dazu, den Bühnennachwuchs auf seinen Beruf vorzubereiten, sondern auch dazu neue Familienbande zu knüpfen. Am Konservatorium Bern fanden sich einst die lediglich wahl- und nicht blutsverwandten Geschwister Pfister zusammen, an der Hochschule für Musik und am Volkstheater Rostock wiederum haben Marcus Melzwig, Claudia Graue und Christopher Nell entdeckt, dass sie in Wahrheit „viereiige Drillinge“ sind – eben Muttis Kinder.
Ein paar Jahre später haben die drei längst den Marsch durch die Sprechtheater dieses Landes angetreten, aber wenn es die Ensembleverpflichtungen zulassen, finden sie immer wieder zum Singen zusammen. Veranstalter sollten sich jetzt schon vorsorglich ihre letzten freien Termine sichern. Denn Muttis Kinder, so viel kann man auch ohne hellseherische Fähigkeiten prophezeien, werden sich vor Konzertanfragen bald nicht retten können. Bei der Premiere ihres neues Programms „Zeit zum Träumen – Unveröffentlichte Hits“ in der Berliner Bar jeder Vernunft haben sie ihren Fankreis jedenfalls flugs um einen Saal voll rundum begeisterter Zuschauer erweitern können.
Und dabei tummelt sich das A-cappella-Trio in einer musikalischen Sparte, in der es an Formationen wahrlich nicht mangelt, und auf den ersten Blick haben Muttis Kinder nicht einmal ein markantes Alleinstellungsmerkmal zu bieten. Weder wird eine hübsch zusammenfabulierte Familienhistorie erzählt, wie es seinerzeit die Geschwister Pfister taten, noch werden die dargebotenen Musikstücke auf Comedy-Tauglichkeit hin ausgewählt und arrangiert. Muttis Kinder reden nicht viel, sondern singen einfach nur und lassen dazu ihre Körper arbeiten. Und wie das alles zusammengeht, wie das in die Ohren geht, manchmal ganz schön am Herzen rührt und dann wieder die Lachmuskeln strapaziert, das macht diese Wahlgeschwister zu einer Sehens- und Hörenswürdigkeit.
Aber der Reihe nach. Zum Auftakt stellen sich Muttis Kinder einfach vors Mikrophon und geben Emiliana Torrinis „Hold Heart“ zum Besten – ganz unprätentiös und in all der Ernsthaftigkeit und Tiefe, die dieser Singwriter-Ballade würdig ist. Die beiden Männer liefern dazu die gesungenen Dumm-di-dumm-Bassläufe und die betörende, klare, wandlungsfähige Stimme von Leadsängerin Claudia Graue versetzt auch den letzten Zuschauer gleich mal in Erstaunen. Nun weiß auch gleich jeder, auf welchem musikalischen Niveau hier für Unterhaltung gesorgt wird.
Muttis Kinder aber haben kein sonderliches Interesse dran, Songs einfach nur schön vom Blatt zu singen. Bei Coolios „Gangstas Paradise“ beweisen sie uns noch schnell, dass selbst aufgeblasene Rap-Hits bis ins Detail allein durch virtuose Gesangsarbeit reinszeniert werden können. Christopher Nell geht schließlich sogar so weit, „Bohemian Rhapsody“ komplett im Alleingang aufzuführen – als zarte Falsett-Version von Freddie Mercury und inklusive Backgrundchor, E-Gitarrensalven. Zum Niederknien!
Dass Muttis Kinder ein Lied tatsächlich von der ersten bis zur letzten Strophe artig durchsingen, ist jedoch die Ausnahme. Ob sie Petula Clarkes „Downtown“ anstimmen oder Rihannas „Only Boy“, man weiß nie wohin das führt. Von Chris Isaaks „Wicked Games“ genügt ihnen die Hookline, um in immer neuen Wendungen und Windungen die vokalen Möglichkeiten zu exerzieren. Songs schieben sich übereinander, überlagern sich wie von einen DJs ineinandergemischt.
Viele der Nummern wirken auf den ersten Blick (!) wie Vocal-Jazz-Improvisationen, die ganz geschmeidig, scheinbar ziellos, einfach immer weitertreiben. Ein Wortfetzen führt zum Rhythmuswechsel, eine Verszeile hin zu einem anderen Song, eine Silbenreihung zu einem imitierten Instrumentensolo. Was eben noch als Soulphrase daherkommt, klingt bald wie der traditionelle Gesang von Indianern oder Lappen.
Ganz selbstverständlich beherrschen Muttis Kinder auch all die netten, bekannten A-cappella-Spielereien, lassen mit ihren Stimmbändern Streichquartette erklingen oder auch Synthesizer-Akkorde und Beatbox-Rhythmen erschallen.
Das alles geht dabei, mal in natürlichen Fließbewegungen, mal ironisch gebrochen, ineinander über, und niemand weiß, wo eine Nummer letztlich enden wird. Im Zweifelsfalle wieder ganz am Anfang. Das ist nicht nur verblüffend, das ist vor allem eine große Kunst. Wie fein diese Stimmen aufeinander abgestimmt sind, wie präzise und virtuos das alles ausgefeilt ist, versetzt einen stets aufs Neue in Erstaunen. Weil sie dabei jegliche Eindeutigkeit vermeiden, bleibt dieser Abend durchweg in einer intelligenten Schwebe zwischen Ernst und Komik, Tief- und Blödsinn.
Auch was die Bühnenpräsentation angeht, lassen sich Muttis Kinder nicht so einfach in die Karten blicken. Sind die kleinen Neckereien, ihre spielerische Ausgelassenheit, die enorme Körperlichkeit, mit der sie ihre Gesangsstücke präsentieren, spontan oder ebenfalls detailliert durchinszeniert? Wenn etwa Christopher Nell sich mit „Jürgen Marcus’ „Eine neue Liebe ist wie ein neues Leben“ als Schlagerrampensau entpuppt, dass das Publikum sogar ganz ohne Animation in den Gesang mit einstimmt, verstecken sich Nells Kollegen fremdschämend hinter den Bühnenpfeilern, um sich dort pantomimisch zu übergeben. Lassen sich solche Zuschauerreaktionen tatsächlich planen oder hatten wir alle zusammen einfach nur eine besonders ausgelassene Show erlebt?
Bis 9. Juni kann man das noch in der Bar jeder Vernunft überprüfen, danach sind Muttis Kinder noch für einige wenige Einzelauftritte im Bundesgebiet unterwegs.
Axel Schock © 2013 BonMoT-Berlin
Fotos Muttis Kinder:
Pressefoto © Alexander Weiss
Livefoto © Jan Wirdeier
Termine – Muttis Kinder: Zeit zum Träumen – Unveröffentlichte Hits
noch bis 9. Juni 2013: Berlin, Bar jeder Vernunft, Di-Sa 20 Uhr, So 19 Uhr
Kartentelefon: 030-883 15 82
Tourplan auf der Homepage von Muttis Kinder
